Juli 2019

Post vom Wiener Damen-Orchester

Rara/FMG Postkarten.178, Vorderseite © Archiv fmg


Diese Postkarte des „Wiener Damen-Orchester“ ist Teil eines fmg-Quellenkonvoluts bestehend aus 460 Ansichtskarten, darunter 423 Karten von Damenensembles um 1900 (Tanz- und Verwandlungsensembles, Gesangsensembles u.v.m.), von denen 223 Karten zwischen 1899 und 1943 tatsächlich versendet wurden. Zwei größere Themenkomplexe kristallisieren sich aus dieser Sammlung: Einerseits sind die Karten Zeugnis der Identitäten, (Selbst-) Darstellung und Inszenierungsstrategien europäischer Damenensembles Anfang des 20. Jahrhunderts. Andererseits bergen die gelaufenen Exemplare wertvolle Informationen über die Nutzer*innen und Nutzungszwecke der Ensemblekarten selbst. Dabei rücken drei Fragenstellungen verstärkt ins Zentrum einer Untersuchung: 

  • Welche Reichweite hatten die Karten eines Ensembles? D.h. von wo und wohin wurden sie versendet?
  • Wer versendete Postkarten an wen? In welcher Beziehung stehen Sender*in und Empfänger*in zueinander?
  • Weshalb werden die Karten versendet? Wird auf einen Konzertbesuch oder Veranstaltungsort verwiesen?

Die Karte des „Wiener Damen-Orchesters“ ist insofern ein besonders interessantes Beispiel, da sie im wortwörtlichen Sinne einlädt, den Blick zu wenden. Auf der Vorderseite ist das in Herzform eingerahmte Ensemble abgebildet, bestehend aus sechs Frauen in weißen Kleidern mit aufwendigen Hochsteckfrisuren und Blumenschmuck. Darunter geschrieben steht die Frage des Absenders: 

    „Welche gefällt Dir denn von den am besten?“

Daraus eröffnen sich Fragen über die Identität des Absenders bzw. Empfängers, den Inhalt der Postkartennachricht und einem darin beinhalteten potenziellen Rückbezug zum abgebildeten Ensemble. 

Rara/FMG Postkarten.178, Rückseite © Archiv fmg


„Lieber Emil! Die besten Grüße aus dem Restrt. „Alt-Leipzig“ sendet dir dein Freund Walter. Amüsieren uns hier großartig. Stellung vorbei. 1 Jahr zurück. […] Ich bin fahrende Artillerie. Beste Grüße von Hermann.“

Aus der Zusammenschau von Poststempel, Adressspalte und Postkartennachricht auf der Kartenrückseite lässt sich schließen, dass

  • die Karte des Wiener Ensembles am 13.04.1908 von Gaschwitz (Landkreis Leipzig) nach Stuttgart versendet wurde,
  • es sich bei dem Absender um den Militärsoldaten Walter (Nachname unbekannt) handelt, der an seinen Freund Emil Heyne schreibt,
  • der Grund der Nachricht ein unterhaltsamer Besuch des Soldaten im Restaurant „Alt-Leipzig“ war.

Dass es sich bei „Alt-Leipzig“ um einen Aufführungsort, u.a. von europäischen Damenensembles, gehandelt haben könnte, zeigt eine andere Ansichtskarte aus der Sammlung.

Rara/FMG Postkarten.460, Vorderseite © Archiv fmg
Rara/FMG Postkarten.460, Rückseite © Archiv fmg


Aus der ergänzenden Betrachtung der Kartenvorder- und Rückseite wird ersichtlich, dass es in der Windmühlenstraße 11-13 in Leipzig ein sogenanntes „Konzert- und Künstlerhaus Alt Leipzig“ gegeben haben muss, in dem offenbar auch Speis und Trank serviert wurden. Darauf weisen die vielen Tische mit Stühlen auf der Bildseite hin. Dies lässt darauf schließen, dass eine künstlerische Darbietung vor Ort – möglicherweise des Wiener Damen-Orchesters selbst – Grund dafür war, dass sich Soldat Walter bei seinem Besuch im Restaurant „Alt-Leipzig“ 1908 so großartig amüsierte.

Text: Felisa Mesuere

 

Zuletzt bearbeitet: 20.01.2020

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