Juni 2019

Künstlerische ‚Welten‘ und kulturelles Handeln in einem Brief von Amalie Joachim

Erste Seiten des Briefes von Amalie Joachim an einen Herrn, [Berlin], [Juni 1874?]. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.8/2 © Archiv fmg


Das Kammermusikfestival der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover hat in diesem Sommersemester Einblicke in die ‚Welten‘ von Clara Schumann gegeben. An einem der Abende wurde die Lesung von Briefen aus Clara Schumanns Umkreis mit Kompositionen von Clara und Robert Schumann und Johannes Brahms kombiniert. Ein guter Anlass, um zu schauen, welche Briefe aus dem Umkreis sich in der Rara-Sammlung des Forschungszentrums Musik und Gender befinden. Dazu zählt ein Brief von Amalie Joachim (1839–1899) an einen nicht namentlich angesprochenen Herren.

Der Brief verweist auf verschiedene Orte, die auf dem Briefpapier gedruckte Adresse auf Berlin, Amalie Joachims Ausführungen auf Hannover. Joseph Joachim (1831–1907) war von 1853 bis 1868 Konzertmeister an der Königlichen Oper in Hannover, lernte dort Amalie Schneeweiss kennen, die 1862 an das Theater kam und dort bis zur Heirat mit Joachim im Juni 1863 als Sängerin Aufsehen erregte. Joseph Joachim dachte während seiner Hannoveraner Jahre immer wieder über Kündigung nach, zu einem beruflichen Wechsel kam es jedoch erst, nachdem Hannover (1866) von Preußen annektiert worden war. Die Joachims verließen Hannover und ließen sich im Herbst in Berlin nieder. Im Brief ist außerdem die Rede von Joseph Joachims Konzertreisen nach Russland und England, und von Rom, dem Ort künstlerischer Tätigkeit eines früheren Schülers von Joseph Joachim. Ein einzelner, zufälliger Brief aus einem Quellenbestand – und doch verweist er auf künstlerische ‚Welten‘, d.h. auf einen internationalen künstlerischen Wirkungskreis: West-Ost-Achse (England-Russland) und Nord-Süd-Achse (Hannover-Rom) vermessen einen Raum großer Musiker-Mobilität.

Der Brief thematisiert kulturelles Handeln: Das internationale Konzertieren von Joseph Joachim, sein Unterrichten eines aus Rom zu ihm kommenden Geigers in der Hannoveraner Zeit, das Studieren dieses italienischen Geigers, Ettore Pinelli (1843–1915), in Hannover, Pinellis Einsatz für deutsche Musik in Italien. Der Brief lässt Umrisse des kulturellen Handelns der im Brief genannten Männer erkennen und verschiedene Ebenen des mit Konzertieren, Unterrichten, Studieren einhergehenden Kulturtransfers aufscheinen.

Welcher Art das kulturelle Handeln des nicht namentlich genannten Briefempfängers ist, bleibt offen: Offensichtlich wollte er Näheres über Ettore Pinelli erfahren, hatte Notizen über Amalie Jochim erbeten und nach dem genauen Geburtsdatum von Joseph Joachim gefragt. Ist er ein Verleger? Ist er ein Musikschriftsteller oder –feuilltonist?

Und auch das kulturelle Handeln von Amalie Joachim bleibt im Brief teils undeutlich: Wir wissen nicht, was sie dem „geehrten Herrn“ in den beigefügten Notizen über sich selbst mitteilte. Ein zweiter Aspekt ihres kulturellen Handelns liegt dagegen offen zu Tage: Mit großer Selbstverständlichkeit gibt sie brieflich Auskunft und wird tätig in einem Bereich, den wir heute als Konzert-Direktion und Konzert-Management bezeichnen würden. Kann Joseph Joachim nicht korrespondieren, weil er auf Reisen ist, dann tut sie dies und schlägt dabei – so zeigt dieser Brief – nicht den Ton der Unterordnung eines Sekretärs an, sondern einen mit ihrem Mann gleichrangigen Ton.

Die auf dem Briefbogen gedruckten Adresse und der in Rede stehende Ettore Pinelli führen an die Datierung des Briefes heran. Amalie und Joseph Joachim wohnten von 1873 bis 1883 in der Beethovenstrasse 3 im Thiergarten. Wenn Amalie Joachim schreibt, es sei etwa zehn Jahre her, dass Pinelli in Hannover bei ihrem Mann studiert habe, dann lässt das drauf schließen, dass der Brief zu Beginn der Jahre in der Beethovenstrasse geschrieben wurde. Ettore Pinelli studierte 1864 bei Joseph Joachim in Hannover. Vor „etwa zehn Jahren“ – das mag etwas mehr als zehn Jahre heißen oder auch etwas weniger. Vielleicht erinnerte sich Amalie Joachim jedoch gar nicht ungefähr, sondern ziemlich präzis, denn aus welchem Anlass mag plötzlich (von einem Musikberichterstatter?) nach Ettore Pinelli gefragt worden sein? Ettore Pinelli gründete 1874 die Società Orchestrale Romana. Die Gründung einer solchen Institution ist ein herausgehobenes Ereignis, eine Wegmarke in der künstlerischen Laufbahn von Ettore Pinelli, der damit nicht länger nur einer von vielen erfolgreich konzertierenden Geigern in Italien war. Die Wegmarke mag Anlass gegeben haben, dass Korrespondenten in Deutschland genauere Auskünfte über Pinelli einholten. Möglicherweise schrieb Amalie Joachim den Brief also im Juni 1874.

3. Beethovenstrasse, N.W.
Thiergarten
Sehr geehrter Herr!
Mein Mann ist, vor seiner längeren Reise nach Russland und England, nicht mehr dazu gekommen Ihren freundlichen Brief vom 8ten Jun. zu beantworten, und übertrug mir diese angenehme Pflicht, deren ich mich hiemit entledige.
Über Hektor Pinelli können wir Ihnen leider keine näheren Notizen geben. Er kam vor etwa zehn Jahren nach Hannover, um mit meinem Manne zu studiren. Der damals etwa 20-22jährige Mann blieb zwei Jahre – und ging dann weder nach Rom zurück – wo er viel öffentlich spielt und sein Bestes zur Hebung deutscher Musik zu thun scheint. Wir haben seit vielen Jahren nichts mehr direkt von ihm gehört. –
Der Geburtstag meines Mannes fällt auf den 28ten Juni. –
Die über mich gewünschten Notizen folgen anbei.
Mit unsern vereinten, besten Empfehlungen bin ich
Sehr geehrter Herr
Hochachtungsvoll
Amalie Joachim

Text: Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann

 
Amalie Joachim. Nach einer Photographie. Stich u. Druck von Weger in Leipzig. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.8/1 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 20.01.2020

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