Mai 2019

„Als sollte ich meinem Herzen einen treuen Lebensgefährten rauben“ – Clara Schumann über ihr Tagebuch

Erste Seite des Briefes von Clara Schumann an Josef Lewinsky, Baden, 18.09.1886. Signatur: Rara/FMG Schumann,C.24 © Archiv fmg


Clara Schumann (1819–1896) schrieb am 18. September 1866 einen Brief aus Baden an Josef Lewinsky (1835–1907) nach Wien, der sich neuerdings im Bestand des fmg befindet. Mit dem beliebten Schauspieler stand Clara Schumann in freundschaftlichem Kontakt, seit sie ihn 1858 in der Rolle des Franz Moor in Die Räuber von Friedrich Schiller „ganz genial“  erlebt hatte. In diesem Brief nun entschuldigte sich Clara Schumann, dass sie sich eine Weile nicht gemeldet hatte:

„Ich hatte in den letzten Monaten eine Arbeit vor, die meine ganze Zeit so in Anspruch nahm daß ich zu keiner Korrespondenz kam.“

Was hatte Clara Schumann vom Schreiben abgehalten?

„Ich habe nämlich ein Tagebuch, welches mein Vater an meinem 5ten Geburtstag begann; und ich, sobald ich denken konnte, fortführte durch mein ganzes Leben hindurch. Die letzten sechs Jahre nun war ich durch meine vielen Reisen nur zu ganz kurzen Notizen gekommen. Lange kämpfte ich mit mir, ob ich’s ganz aufgebe, oder ordentlich nachholen sollte. Gab ich es auf, so war mir, als sollte ich meinem Herzen einen treuen Lebensgefährten rauben, und so entschloß ich mich diese sechs Jahre nachträglich auszuführen, und hatte wirklich vor einigen Tagen die Freude es zu vollenden; aber es hat eben so viel, oder wohl mehr noch moralische als physische Kräfte gekostet, denn ich habe mit den Freuden dieser Jahre auch die Leiden wieder durchlebt, und das war schwer.“

Das Tagebuchschreiben begleitete Clara Schumann fast durch ihr ganzes Leben: zunächst war es ihr Vater Friedrich Wieck (1785–1873), der ab 1827 aus seiner Sicht bzw. als „Clara-Ich“ ein Tagebuch begann, um die Fortschritte seiner Tochter als Pianistin zu dokumentieren und zu kontrollieren. Nach und nach erst wurde Clara Schumann als Schreiberin dieser frühen Tagebücher federführend. Später führte sie zusammen mit ihrem Mann Robert Schumann (1810–1856), sogenannte Ehetagebücher.

Wie einen „treuen Lebensgefährten“ empfand Clara Schumann ihr Tagebuch, wie sie es im September 1866 an ihren Freund Josef Lewinsky schrieb. Die damals 47-jährige Witwe hatte sich die Zeit genommen, die vergangenen sechs Jahre aufzuarbeiten, in denen sie durch das viele Reisen lediglich dazu gekommen war, sich kurze Notizen zu machen. Es war offenbar ein kräftezehrendes Vorhaben, während dessen sie die Freuden und Leiden der zurückliegenden Jahre noch einmal durchlebte. Es wäre durchaus interessant, die Tagebuchaufzeichnungen, die Clara Schumann „ordentlich nachgeholt“ hatte und in deren Kontext dieser Brief geschrieben wurde, einzusehen und einen Blick aus dieser besonderen Perspektive auf die Künstlerin einzunehmen.

Allerdings gibt es die Tagebücher, die zwischen 1845 und 1896 entstanden sind und demnach über 50 Jahre des Lebens von Clara Schumann umfassten, weitestgehend nicht mehr. Marie Schumann (1841–1929), die älteste Tochter von Robert und Clara Schumann, verwaltete nach dem Tod ihrer Mutter deren schriftlichen Nachlass. Für seine Arbeit durfte Berthold Litzmann (1857–1926), der von der Familie beauftragte Verfasser der ersten Biographie Clara Schumanns, eine vermutlich zuvor getroffene Auswahl an Tagebüchern und Briefen einsehen und darin verwerten. Anschließend jedoch ließ Marie Schumann die späteren Tagebücher vernichten, was vermutlich auch dem Wunsch ihrer Mutter entsprach.

Text: Viola Herbst

 
Letzte Seite des Briefes von Clara Schumann an Josef Lewinsky, Baden, 18.09.1886. Signatur: Rara/FMG Schumann,C.24 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 20.01.2020

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