Februar 2020

„Ich bin neugierig auf den Besuch des Kometen“ – Zur astronomischen Hilfe bei der zeitlichen Einordnung eines Briefes von Marie Wieck

Erste und letzte Seite des Briefes von Marie Wieck an Erwine Joss, Dresden, 18.04.[1910]. Signatur: Rara/FMG Wieck,M.2 © Archiv fmg


Marie Wieck (18321916) wurde die Musik quasi in die Wiege gelegt. Als erste Tochter aus der zweiten Ehe des Leipziger Musikpädagogen Friedrich Wieck bekam sie eine umfassende musikalische Ausbildung. Mit elf Jahren trat Marie Wieck zum ersten Mal öffentlich als Pianistin auf – zusammen mit ihrer bekannten Halbschwester Clara Schumann. Jahrzehntelang war Marie Wieck in der Öffentlichkeit präsent und gab noch bis kurz vor ihrem Tod Konzerte und Unterricht.    

Im Bestand des fmg befinden sich mehrere Briefe von Marie Wieck. Darunter ist auch ein Schreiben, das sie an die Schriftstellerin Erwine Joss (*1878) nach Prag sandte. Der Brief zeigt Marie Wieck als umtriebige Künstlerin und erlaubt einen facettenreichen Einblick in ihre pianistische Tätigkeit, mit der sie sich offensichtlich besonders für die Etablierung der Werke ihres Schwagers Robert Schumann eingesetzt hatte. An einem 18. April wurde er in der Fürstenstraße 69 in Dresden aufgesetzt. Gibt der Inhalt des Briefes Hinweise auf sein Entstehungsjahr?

„Endlich bin ich wieder zu Haus“, schreibt Marie Wieck. „Meine Dienerschaft wollte sich vor Sehnsucht tödten.“ Marie Wieck lebte seit ihrem achten Lebensjahr in Dresden, allerdings nicht immer im selben Haus. In die Fürstenstraße war Marie Wieck 1907 im Alter von 75 Jahren gezogen und wohnte dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1916. 

Marie Wieck berichtet Erwine Joss unter anderem von einem Konzert, das sie zusammen mit der Pianistin Mary Wurm, einer Schülerin ihrer Schwester Clara Schumann, in Berlin gegeben hatte. „Ich wurde von allen vergöttert“, resümiert Marie Wieck und zieht eine positive Bilanz. Mit Mary Wurm (1860–1938) stand Marie Wieck zwischen 1908 und 1910 in Kontakt, gemeinsame Konzerte gaben die beiden Pianistinnen 1910, so etwa am 17. März 1910 in Berlin.

Dass die seinerzeit 78-jährige Marie Wieck ihren Brief also am 18. April 1910 geschrieben haben könnte, liegt nahe. Dafür sprechen auch die „Schumann Vorlesungen“, von denen Marie Wieck berichtet. „Haben Sie viele in Prag?“ möchte sie von Erwine Joss wissen, der Ehefrau des Komponisten und Schriftstellers Victor Joss (18691942). Zu dessen schriftstellerischem Werk zählen auch die biografischen Studien Friedrich Wieck und sein Verhältnis zu Robert Schumann (1900) und Der Musikpädagoge Friedrich Wieck und seine Familie, mit besonderer Berücksichtigung seines Schwiegersohnes Robert Schumann (1902). Marie Wieck schreibt darüber hinaus, dass sie von verschiedenen Städten angefragt wurde, an Robert Schumanns Geburtstag zu spielen. Das Jahr 1910 war im Hinblick auf die Robert Schumann-Rezeption ein besonderes, jährte sich doch am 8. Juni 1910 sein Geburtstag zum hundertsten Male. Dieser wurde dementsprechend mit einer Vielzahl von Konzerten und anderen Veranstaltungen begangen. Ein besonders großes Ereignis dieser Art war die Gedenkwoche in Robert Schumanns Geburtsstadt Zwickau, wo Marie Wieck am Tag seines Geburtstags gemeinsam mit Mary Wurm auftrat.

Wohnadresse, Duettpartnerin, Geburtstag des Schwagers – der Brieftext gibt mehrere Hinweise, die dabei helfen, ihn auf das Entstehungsjahr 1910 festzulegen. Letzte Gewissheit mag ein kurzer Satz bringen, den Marie Wieck fast beiläufig und ohne Bezug zum Rest des Briefes fallen ließ: „Ich bin neugierig auf den Kometen.“ Gemeint war damit der Komet Halley, der mit einem ausgeprägten Schweif ausgestattet ist und seit vielen Jahrhunderten beobachtet wird. Etwa alle 76 Jahre lässt sich der Komet von der Erde aus mit bloßem Auge gut sehen, und 1910 sollte es wieder so weit sein. Die Ankunft des Kometen wurde zu einem spektakulären und weltweit mit Spannung und teilweise sogar panischer Weltuntergangsstimmung erwarteten Ereignis: am 20. April 1910 wurde der Komet schließlich gesichtet, am 19. Mai durchquerte die Erde sogar Halleys Schweif. Für Marie Wieck als auch noch im höheren Alter vielbeschäftigte Pianistin war der Komet offenbar kein weltbewegendes Thema oder jedenfalls im vorliegenden Brief nur eine kurze Erwähnung wert, die aber im Nachhinein und im Kontext mit den übrigen Hinweisen eine genaue zeitliche Einordnung ihres Briefes ermöglicht. 

Text: Viola Herbst

 
Marie Wieck. Lithographie von Schlick, o.O., 1851. Signatur: Rara/FMG Wieck,M.5 © Archiv fmg
Der Komet Halley aufgenommen am 09.03.2012 © NASA

Zuletzt bearbeitet: 06.01.2021

Zum Seitenanfang