März 2020

„Le Chemin du Ciel“ aus dem Liederzyklus Contes Divins von Augusta Holmès

Titelseite und erste Notenseite von „Le Chemin du Ciel“ aus dem Liederzyklus Contes Divins von Augusta Holmès. Paris, [1893]. Signatur: Rara/FMG NO Holmès,A (320.20).6 © Archiv fmg


Bei der hier vorliegenden Notenausgabe handelt es sich um einen Nachdruck des 1893 bei dem Pariser Verleger A. Durand & Fils erschienenen Liedes „Le Chemin du Ciel“ der französischen Komponistin Augusta Holmès (1847–1903). Das Lied – hier in der Fassung für Sopran oder Tenor in G-Dur – steht im Kontext des sechs Lieder umfassenden Zyklus’ Contes Divins, welcher in den Jahren 1892–1896 entstanden ist und zu dem die Komponistin aus musikästhetischen Gründen den Gesangstext selbst verfasste. Holmès fertigte nahezu alle Textvorlagen und Libretti zu ihrem Vokalœuvre an. Das autographe Manuskript zu „Le Chemin du Ciel“ befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale in Paris (F-Pn N.A.Fr. 16260, folio 18-19]).

Die Originalfassung von „Le Chemin du Ciel“ hat Holmès für Mezzo-Sopran bzw. Bariton geschrieben und Mary Kelly gewidmet. Während die Widmung noch auf dem ebenfalls in der Pariser Bibliothèque nationale archivierten „Dépôt légal“-Exemplar (Sign. Vm7 11632 (3)) der Originalausgabe aus dem Jahre 1893 in roten Lettern rechts oberhalb des Frontispiz abgedruckt ist, enthält die hier vorliegende Ausgabe sowie eine Ausgabe aus dem Jahr 1908 (Privatbesitz) mit französischem und englischem Gesangstext diese Information nicht mehr. Die Übersetzung der offenbar für den englischen Musikmarkt vorgesehenen Ausgabe nahm Nita Cox vor.

Inhaltlich knüpft Augusta Holmès mit diesem Lied an zentrale Motive der Romantik wie Liebe, Natur und das Gefühl der Heimatlosigkeit, das stets Auf-Wanderschaft-Sein, an: Das lyrische „Ich“ geht – von Sehnsucht getrieben und auf der Suche nach dem Paradies – der untergehenden Sonne entgegen. Im nächtlichen Dunkel und unter funkelnden Sternen vereint ein Kuss die beiden Seelen und nimmt die Vereinigung im Jenseits vorweg. Formal besteht das Gedicht aus 4 Strophen, die als Paarreim (aa bb) angelegt sind.
 

A l’heure où la brise tremble, Où les foins ont l’odeur du miel,
Deux enfants cherchaient ensemble La route du Ciel.
Il[s] allaient vers cette aurore Qui tombe des soleils couchants,
Quand le soir bleuit  et dore Les bois et les champs.

L’amoureuse Cueillait, rieuse, La rose et la tubéreuse;
L’amoureux, Une flamme aux yeux, Désignait la route poudreuse:
„Plus loin, là-bas, vers l’horizon, Laisse-toi conduire, adorée!
Vers les Jardins, vers la Maison, Vers la lumineuse Contrée!“


[Zwischenspiel]

Dans la nuit aux sombres voiles, Le beau couple marchait toujours,
Devisant sous les étoiles De rêve et d’amours.
Mais soudain, parmi les nues Passa l’aile d’un Séraphin...
Et les lèvres ingénues S’unirent enfin!..

Des ramures, Des mousses mûres, Des prés aux pâles verdures,
A la fois, De divines voix S’élevèrent en doux murmures:
„Voici le Ciel! voici l’azur Et le Paradis sans mélange,
Car un baiser profond et pur De deux âmes fait un seul Ange!“

In der Vertonung fasst Holmès Strophe 1 und 2 zu einem größeren Teil zusammen, dessen musikalisches Material auf dem Text der Strophe 3 und 4 fast identisch wiederholt wird, sodass man von einer zweiteiligen Liedform (A – A’) sprechen kann. Der erste Teil beispielsweise untergliedert sich in drei Satzglieder (a – b – c): Stehen die Satzglieder a (Takt 1-18) und c (Takt 27-35) jeweils in G-Dur und Andante, ist das 2. Satzglied in h-Moll (Takt 19-26) „plus animé“ auszuführen. Den Text sinnfällig vertonend ist die Melodielinie aufwärts, gewissermaßen himmelwärts strebend. So durchschreitet die Gesangspartie beginnend mit einer aufsteigenden Quarte und gefolgt von Sekunden und einer Terz gleich in der ersten viertaktigen Phrase eine Oktave. Das insgesamt getragene Tempo des Liedes korreliert mit einer äußerst verhaltenen Dynamik, die nur jeweils im dritten Takt des h-Moll-Teils durch ein plötzliches f durchbrochen wird, welches aber binnen zweier Takte wieder zu einem p decrescendiert und schlussendlich in einem ppp endet.

Zu Lebzeiten von Augusta Holmès wurden die Lieder aus Contes divins den damals üblichen Programmzusammensetzungen entsprechend nicht als kompletter Zyklus, sondern einzeln im Kontext eines bunt gemischten Programmes aufgeführt: Bislang konnte „Le Chemin du Ciel“ für die Jahre 1894, 1895 und 1899 auf folgenden Konzertprogrammen nachgewiesen werden (Nicole K. Strohmann: Gattung, Geschlecht und Gesellschaft im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Studien zur Dichterkomponistin Augusta Holmès (= Musikwissenschaftliche Publikationen, Bd. 36), Hildesheim / Zürich / New York: Georg Olms Verlag 2012, S. 475, 477, 481):

1.) Chemin du ciel von Augusta Holmès, Konzertprogramm, La Musique de Chambre, Audition des Élèves de Mademoiselle Génicoud, Salons de la Maison Pleyel, Wolff et Cie, Paris 06.06.1894, veröffentlicht in: La Musique de Chambre. Année 1894. Séances musicales données dans les salons de la Maison Pleyel, Wolff et Cie, Paris:
Salons Pleyel, Wolff et Cie [1895], F-Pn 4° Vm 365.

2.) Le Chemin du Ciel von Augusta Holmès, Konzertprogramm, 159e Concert du Cercle national des Armées de Terre et de Mer, Paris 10.12.1895, F-Pn Bp. 162.

3.) Le Chemin du Ciel von Augusta Holmès, Konzertprogramm, Soirée du 11 janvier 1899, Bon-Bock, Paris 11.01.1899, F-Pn Rj 3166 98.

Neben Contes divins verfasste Augusta Holmès sieben weitere Liederzyklen bzw. -sammlungen sowie ca. 130 einzelne Liedkompositionen. Besonders interessiert an groß angelegten Gattungen, stellte die Komponisten vier Opern in Text und Musik fertig. Zu fünf weiteren musikdramatischen Stücken ist Skizzenmaterial überliefert. Erwähnenswert ist die am Pariser Opernhaus Palais Garnier 1895 uraufgeführte Oper La Montagne noire. Gelegentlich trat Holmès auch als Interpretin und Dirigentin auf, doch verstand sie sich dezidiert als Komponistin und hinterließ neben den genannten Werken 14 Stücke für Solisten, Chor und Orchester und 8 Orchesterwerke, darunter die monumentale Ode triomphale en l’honneur du centenaire de 1789 – ein Werk, welches für 900 Choristen und 300 Orchestermusiker konzipiert ist und mit dem die Hundertjahrfeier der Französischen Revolution offiziell zelebriert wurde.

Text: Vertr.-Prof. Dr. Nicole K. Strohmann

 
Augusta Holmès. Fotografie von André Taponier, o.O., [zwischen 1880 und 1887]. Quelle: bibliotheques-specialisees.paris.fr/ark:/73873/pf0000862250

Der Liederzyklus Contes divins besteht aus 6 Liedern:

1. L’Aubépine de saint Patrick (1892), Paris: Durand 1893
2. Les Lys bleus (1892), Paris: Durand 1892
3. Le Chemin du ciel (1893), Paris: Durand 1893
4. La Belle Madeleine, (1893), Paris: Durand 1893
5. La Légende de saint Amour, (1893), Paris: Durand 1893
6. Les Moutons des anges (1895), Paris: Durand 1896
F-Pc D. 6121 (53-58)

Zuletzt bearbeitet: 06.01.2021

Zum Seitenanfang