Oktober 2020
„Hochverehrter Doktor!“ Die Bedeutung der Kontakte für den Erfolg der Sängerinnen um 1900 in einem Brief von Hedwig Francillo-Kauffmann
Berlin, Wien, Hamburg, London, Prag, Brüssel, Paris…
In all diesen und vielen anderen Städten sang die Wiener Sopranistin Hedwig Francillo-Kauffmann (*30. September 1878, Wien, †26. April 1948, Rio de Janeiro), in einigen von ihnen als Mitglied des Opernensembles und in anderen – besonders als ihre Karriere bereits gefestigt war – als Gastsängerin.
Die Quelle des Monats Oktober aus dem fmg-Archiv ist ein Brief dieser Sängerin und entstand zu Beginn ihres Engagements am Hamburger Stadttheater im Jahr 1912, wahrscheinlich einige Tage vor Saisonbeginn.
Hamburg 30n/8. 12.Hochverehrter Herr Doktor!
Gestatten Sie, daß ich mir
hiermit erlaube, Sie zu
bitten, meinen künstlerischen
Wirken, am hiesigen Stadt-
theater, Ihr gütiges Interesse
entgegen bringen zu wollen,
wofür ich Ihnen, sehr verehrter
Herr Doktor, sehr dankbar
wäre. Mit vorzüglichster Hochachtung.
Hedwig Francillo-Kauffmann
In diesem kurzen Brief spricht Francillo-Kauffmann einen Doktor an – dessen Name im Brief unbekannt bleibt – und bittet ihn, „[ihrem] künstlerischen Wirken, am hiesigen Stadttheater, [sein] gütiges Interesse entgegen bringen zu wollen”. Diese Art von Anfrage – oder die Dankbarkeit für ihre Erfüllung – war ein wiederkehrendes Thema in den Briefen damaliger Sängerinnen, aber auch in früheren Zeiten, als der Beruf der Sängerschauspielerin begann, sich um 1800 zu professionalisieren. Dies zeigt, wie wichtig es für SängerInnen war, persönliche Kontakte zu pflegen und auf sich aufmerksam zu machen.
Es scheint, dass Hedwig Francillo-Kauffmanns Berufserfahrung – fast 34 Jahre alt und 14 Jahre nach ihrem Debüt in Stettin – und ihre künstlerischen Fähigkeiten nicht ausreichten, um ihre Karriere in der Hansestadt zu festigen. Obwohl ihre Karriere nicht ausschließlich von der Hochachtung dieses Doktors abhing, war sich die Sängerin bewusst, wie wichtig es ist, öffentliche Anerkennung zu erlangen und ihre Kontakte innerhalb der oberen Gesellschaftsschichten zu pflegen. Diese Kontakte könnten ihren Erfolg in der Stadt Hamburg bestimmen und für internationale Tourneen entscheidend sein.
Ihre Laufbahn war bis dahin sehr produktiv, wie ihre Auftritte an den Hoftheatern in Wiesbaden, München oder Berlin sowie an der Komischen Oper in derselben Stadt oder an der Hofoper in Wien zeigen. Sie war auch als Gastsängerin in Russland und anderen Ländern aufgetreten, aber seit ihrem Engagement in Hamburg begann sie, mehr Konzerte und internationale Auftritte zu geben. Tatsächlich hinderte sie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht daran, als Gastsängerin in Wien, Prag, Brünn, Polen und in der Schweiz zu singen. Auf der anderen Seite hatte Francillo-Kauffmann eine umfassende internationale Ausbildung in Wien, Dresden und Mailand erhalten. Tatsächlich hatte sie bereits 1903 einen guten Ruf, wie das Erscheinen eines biografischen Artikels im Biografischen Lexikon der deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert bestätigt:
K[auffmann] befißt eine überaus sympathische Bühnenerscheinung, eine biegsame, weiche, angenehme Stimme, die durch ihre jugendfrische Klangschönheit entzückt und der Künstlerin durchschlagenden Erfolg sichert, verbunden mit einem besonderen Vortragstalent und fein abgetöntem Spiel. Der hell timbrierte Sopran ist vorzüglich geschult und erfreut durch die Bestimmtheit, die Volubilität der Tongebung und eine gewisse weiche Frische das Ohr.
Eisenberg, Ludwig. „Kaufmann, Hedwig“. In: Großes biographisches Lexikon der deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert, herausgegeben von Paul List, S. 500. Leipzig, 1903.
Im Jahr 1912 erhielt sie den Ehrentitel Kammersängerin, der die öffentliche Anerkennung für ihre künstlerische Karriere demonstriert.
Nicht zu unterschätzen ist auch die im Brief gezeigte Klassenkomponente, da Francillo-Kauffmann einen Doktor anspricht. Obwohl der Name dieses Doktors unbekannt ist, ist klar, dass diese Figur eine enge Beziehung mit dem kulturellen und künstlerischen Leben der Stadt gehabt und einen gewissen Einfluss darauf ausgeübt haben muss. Es ist wichtig anzumerken, dass Francillo-Kaufmann die Tochter eines Staatsbeamten war, das heißt, sie stammte aus einer bürgerlichen Familie. Der Beruf der Sängerin oder Schauspielerin war eine der wenigen Möglichkeiten, wie Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen und sozial aufsteigen konnten.
Andererseits zeigen die Kürze und Klarheit des Briefes, dass diese Bitte und Empfehlung für die Sänger der Zeit üblich waren und sicherlich zu einem wesentlichen bürokratischen Verfahren wurden, aber keine große Anstrengung darstellten. Das deutsche Theatersystem war seit vielen Jahren etabliert und die Bewegung von KünstlerInnen von einem Theater zum anderen war weit verbreitet. Die erfolgreichsten Sängerinnen – wie Francillo-Kauffmann, die ihre Karriere in Hamburg festigte – tourten jedoch international, da die finanzielle Vergütung viel höher war. Das bedeutete einen erheblichen künstlerischen und technischen Aufwand, stellte aber auch eine große öffentliche Anerkennung dar und ermöglichte eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Dieser Brief ist jedoch ein weiterer Beweis für die männliche Abhängigkeit der Sängerinnen um 1900. Francillo-Kauffmanns international bekannte Karriere ist geprägt von ihrer Teilnahme an verschiedenen europäischen und südamerikanischen Theatern, sowohl als Stamm- als auch als Gastsängerin, was für ein erfolgreiches Leben als Sopran unerlässlich ist. Das befreite sie 1912 nicht davon, den Kontakt eines einflussreichen Mannes suchen zu müssen, um ihren künstlerischen Wert zu beweisen und damit die Gunst des Hamburger Publikums zu gewinnen und ihre Karriere als Sopranistin zu festigen. Als sie 1917 ihre Tätigkeit in Hamburg beendete, widmete sie sich ausschließlich internationalen Touren, die sie nach Südamerika führten. 1927 beendete sie ihre Karriere als Sängerin und widmete sich dem Unterrichten in Berlin und Salzburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachte sie das letzte Jahr ihres Lebens mit ihrem Sohn in Brasilien – dem Land ihres verstorbenen Mannes.
Text: Ferran Planas Pla (Student im Studiengang Musikwissenschaft und Musikvermittlung und Teilnehmer des Forschungsseminars "Sängerschauspielerinnen um 1800. Biographien, musikalische Praxen und Rezeption" im Sommersemester 2020)
Zuletzt bearbeitet: 06.01.2021
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