August 2021

„I have been flattered and immensely amused by them“ – Von Pies, Parodien und Publikationsrechten

Umschlag des Liederzyklus' "Parody Pie" von Liza Lehmann. London ; Toronto ; New York ; Melbourne : Chappell & Co, [1914]. Signatur: Rara/FMG NO Lehmann,L (354).2 © Archiv fmg


Die Quelle des Monats August stammt aus dem Rara-Musikalienbestand des Forschungszentrums Musik und Gender. Der farbige Einband des 62 (Noten-)Seiten umfassenden Notendrucks fällt sofort ins Auge. Mehr noch: Man kann den Duft, der aus dem dort abgebildeten anscheinend frisch gebackenen und just angeschnittenen Pie entweicht, fast erahnen. Doch sind es hier keine Duft- oder Dampfwolken, sondern zahlreiche Noten – überwiegend als Sechzehntelgruppen skizziert –, die aus dem Pie emporsteigen.

Viel erfahren wir bei der Betrachtung des Umschlags nicht über das enthaltene Musikwerk, lediglich – von oben nach unten und der Schriftgröße nach absteigend gelesen – Titel, Komponistin und Verlag lassen sich entnehmen. Letztere waren zum Erscheinen des Drucks im Jahr 1914 keine Unbekannten. Der Chappell-Verlag gehörte zu den führenden britischen Verlagshäusern und Liza Lehmann (*1852 in London, † 1918 ebd.) hatte sich zunächst als Konzertsängerin, später vor allem als Komponistin, Pianistin und auch als Gesangslehrerin in der britischen Musikwelt einen Namen gemacht. Ein Jahr nach ihrem Tod erschien zudem ihre Autobiographie „The Life of Liza Lehmann. By Herself“, von dessen erster Ausgabe sich ebenfalls ein Exemplar im Rara-Bestand des Forschungszentrums Musik und Gender befindet.

Titelseite des Liederzyklus' "Parody Pie" von Liza Lehmann. London ; Toronto ; New York ; Melbourne : Chappell & Co, [1914]. Signatur: Rara/FMG NO Lehmann,L (354).2 © Archiv fmg


Einen umfassenderen Eindruck von der Quelle des Monats erhalten wir, wenn wir auf die erste Seite des Druckes blättern: Es handelt sich um einen „Song Cycle for Four Voices“, genauer gesagt für Sopran, Alt, Tenor und Bass mit Klavierbegleitung – eine Gattung, die Lehmann nicht nur regelmäßig bediente, sondern auch entscheidend mitprägte. So heißt es in einem im Oktober 1918 in der Musical Times abgedruckten Nachruf: „In fact it may be said that she established the song-cycle in this country.“ („Obituary“, in: The Musical Times, Oktober 1908, S. 452).

Die vertonten Texte stammen, das ist ebenfalls der ersten Seite zu entnehmen, von zeitgenössischen Autoren und Autorinnen: Für einen Großteil der Texte zeichnete Archibald Stodart-Walker, der seit 1898 zahlreiche Bücher veröffentlicht hatte, verantwortlich. Zwei Texte stammen von Nancy Pain, Autorin und zudem Nichte von Liza Lehmann, wobei einer der beiden Texte (Nr. 7, „We are Seven“) gemeinsam mit Winifred Rose verfasst wurde.

Blättern wir im Notendruck weiter, folgt nach einer – für umfassendere Sammlungen und Zusammenstellungen wie diese üblichen – Inhaltsübersicht ein zusätzlicher Abdruck der englischen Gesangstexte. Spätestens an dieser Stelle lässt sich erahnen, was es mit dem Titel des Song Cycle auf sich hat. In den insgesamt neun Songs des Zyklus vertonte Lehmann Parodien bekannter Gedichte. Neben den Autorinnen und Autoren der Parodien werden hier Hinweise auf die Verfasserinnen und Verfasser der parodierten Texte in den Notendrucken genannt. Lediglich die Vokale der Namen wurden zensiert, sodass etwa die britische Autorin Felicia Hemans in dem Druck als „Mrs. H*m*ns“ erscheint. Es ist davon auszugehen, dass die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten von Lehmanns Song Cycle die Anspielung erkannten. Schließlich wurde Hemans „Casabianca“ (1826) – die Vorlage zu Nancy Reichs Parodie „Geyserbianca“ (Nr. 3) – nicht nur in Schulen gelesen, sondern um die Jahrhundertwende auch von mehreren zeitgenössischen Komponisten vertont.

Die musikalische Umsetzung der parodierten Texte lässt sich auf den nächsten Seiten des Drucks nachvollziehen. Neben drei Quartetten (Nr. 1, 5 & 9) komponierte Lehmann für jede Stimme ein Solo sowie zwei Duette für Tenor und Bass (Nr. 2) und Sopran und Tenor (Nr. 8). Der humorvolle und ironische Ausdruck der Texte schlägt sich in der Musik unter anderem in einer illustrativen Textvertonung nieder.

Mehrere Exemplare des Druckes sind bis heute überliefert und teilweise auch digitalisiert und online zugänglich, wie das Exemplar der New Yorker University of Rochester. Die Besonderheit des Exemplars aus dem Archiv des Forschungszentrums Musik und Gender wird jedoch erst bei einem genaueren Vergleich der beiden Drucke sichtbar: Das Bass-Solo (Nr. 7) sowie das finale Quartett (Nr. 9) unterscheiden sich in den beiden Exemplaren, was jedoch aus dem Umschlag sowie der Titelseite nicht hervorgeht. Warum liegen hier zwei Versionen – beide übrigens mit einem Copyrightvermerk aus dem Jahr 1914 und identischer Plattennummer – vor?

Eine unscheinbare Anmerkung unter dem Text des letzten Quartetts in dem Exemplar der University of Rochester (Nr. 9, „Excels-ee-aw“) liefert einen Hinweis. Dort ist in kleiner Schrift vermerkt: „A parody on the famous song ‘Good-bye’ has been withdrawn at the request of the Publishers“.

Lehmann erläutert dazu in ihrer Biographie:

„In the original version Parody Pie ended with a skit on Tosti's celebrated song Good-bye; but, as his publishers very strongly objected to the song being parodied, this number had to be amputated and another substituted.“ (Liza Lehmann: The Life of Liza Lehmann, London 1919, S. 194)

Erste Seite des Songs „Goodbye, Supper. Closing time at a Restaurant“ aus dem Liederzyklus "Parody Pie" von Liza Lehmann. London ; Toronto ; New York ; Melbourne : Chappell & Co, [1914]. Signatur: Rara/FMG NO Lehmann,L (354).2 © Archiv fmg


Bei dem Exemplar aus dem Forschungszentrum Musik und Gender handelt es sich also offensichtlich um einen Druck dieser ersten, „originalen“ Version des Zyklus mit der Parodie „Goodbye, Supper. Closing time at a Restaurant“ auf Tostis Song und damit um eine Rarität: Den Katalogeinträgen der wenigen anderen internationalen Bibliotheken, die den Zyklus ebenfalls in ihrem Bestand haben, nach zu urteilen, liegt dort überwiegend der 72-seitige Neudruck des Werkes vor.

Dass Verlage wie in diesem Fall der italienische Musikverlag Ricordi, der den Song von Francesco Paolo Tosti erstmals 1881 publiziert und u.a. über seine Filiale in London distribuiert hatte, Parodien untersagten, war eine durchaus gängige Praxis. So finden sich auf den Titelblättern vieler zeitgenössischer Drucke Anmerkungen wie „The public performance of any parodied version however is strictly prohibited.“ oder „W. Morley & Co. […] do not allow a parody or other version to be written or sung“.

Tosti hatte – so Lehmann in ihrer Autobiographie – ebenso wie die Komponistin selbst, keine Einwände gegen etwaige Parodien, trugen diese doch auch zur Bekanntheit der parodierten „Originale“ bei: „Signor Tosti told me that he personally had no objection, and I have never resented parodies of my songs on the contrary, I have been flattered and immensely amused by them.“ (Liza Lehmann: The Life of Liza Lehmann, London 1919, S. 194)

Text: Dr. Maren Bagge (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender)

 
Liza Lehmann. Fotografie: W. und D. Downey. [o.O.], 1889. Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Liza_Lehmann_1.jpg

Zuletzt bearbeitet: 07.10.2021

Zum Seitenanfang