Dezember 2021

"But that you could not know. So very sorry!!" – Missverständnisse in und um einen Brief von Nina Grieg

Zum Bestand des Forschungszentrums Musik und Gender gehört unter anderem eine umfangreiche Sammlung von historischem Quellenmaterial, welches nur darauf wartet, genauer unter die Lupe genommen und untersucht zu werden. Damit Interessenten überhaupt wissen, welche Schätze es im fmg zu entdecken gibt, werden jeweils grobe Beschreibungen erstellt. Bei einem Brief besteht eine solche im besten Falle aus den Namen von Absender*in und Adressat*in sowie Entstehungsort und -zeit. In manchen Fällen lassen sich diese Daten heute nur noch schwer ermitteln. In anderen scheinen sie auf der Hand zu liegen. 

Brief von Nina Hagerup Grieg an Carl Henriques Melchior. London, 4.11.1912. Signatur: Rara/FMG Grieg,N.1 © Archiv fmg


Im Folgenden soll es um eine Quelle gehen, in der wir es in mehrfacher Hinsicht mit einem Missverständnis zu tun haben. Es handelt sich um einen Brief aus der Feder von Nina Grieg, wie sich gut an der Unterschrift – bestehend aus Vor- und Zuname – ablesen lässt. Der Briefkopf verrät, wo und wann sie dieses Schreiben verfasst hat: „London 4-11-12.“ Dass es sich dabei um das Jahr 1912 handeln muss, ist durch den Einbezug der Lebensdaten von Nina Grieg offensichtlich: Nina Hagerup Grieg wurde 1845 in Bergen (Norwegen) geboren. Sie war eine Sängerin und Gesangslehrerin und ist heute vor allem dadurch bekannt, dass sie die Ehefrau des Komponisten und Dirigenten Edvard Grieg (1843–1907) und zu seinen Lebzeiten eine wichtige Interpretin seiner Lieder war. Als Witwe kümmerte sich Nina Grieg um das musikalische Vermächtnis ihres Mannes und lebte zusammen mit ihrer ledig gebliebenen Schwester Antonie Hagerup (1844–1939) in Kopenhagen, wo sie 1935 starb. (Mehr zu Nina Grieg: Lena Haselmann, Art. „Nina Grieg“, in: MUGI mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Nina_Grieg.html)

Da der Umschlag des Briefes, auf dem die Empfängerin oder der Empfänger gewiss notiert war, nicht überliefert ist, bleibt uns zunächst nur die Anrede: „Dear Mr and Mrs Melchior“, schrieb Nina Grieg. Um wen könnte es sich dabei handeln? Zumeist liegt einer Quelle schon eine mehr oder weniger detaillierte Kurzbeschreibung bei, in welcher der oder die jeweiligen Vorbesitzer formale und inhaltliche Informationen zusammengetragen haben. Das ist auch bei diesem Brief der Fall. Es heißt hier, dass der Adressat ein gewisser Carl Melchior (1871–1933) war, ein Jurist und Bankier aus Hamburg. Laut der Deutschen Biographischen Enzyklopädie, die zitiert wird, war Carl Melchior nach dem 1. Weltkrieg an den Friedensverhandlungen von Versailles beteiligt.

Das macht neugierig und wirft Fragen auf. Welche Beziehung bestand zwischen Nina Grieg und Carl Melchior? Worum ging es in ihrem Brief? Und warum schrieb sie ihn auf Englisch und nicht auf Dänisch oder gar Deutsch?

Nina Grieg entschuldigt sich in ihrem Schreiben, dass sie es leider versäumt habe, „Mr und Mrs Melchior“ zu ihrer Silberhochzeit zu gratulieren. Durch einen Brief von einer Harriet habe sie erfahren, dass die Melchiors an ihrem Ehrentag zu Hause gewesen waren – sie war davon ausgegangen, dass sie unterwegs sein würden. Nina Grieg schreibt nun also am 4. November 1912, dass sie am 2. an die Melchiors gedacht hat, was diese natürlich nicht wissen könnten – „but that you could not know. So very sorry!!“ Die Hochzeit hatte demnach am 2. November 1887 stattgefunden. Der Hamburger Jurist Carl Melchior war zu dieser Zeit allerdings erst 16 Jahre alt, geheiratet hatte er tatsächlich erst kurz vor seinem Tod 1933. Es scheint also mehr als unwahrscheinlich, dass es sich bei diesem Carl Melchior um die von Nina Grieg angesprochene Person handelt.

Carl Henriques Melchior, Adressat des Briefes von Nina Hagerup Grieg. Fotografie: Lars Peter Elfelt. [o.O.], [zwischen 1866–1931]. Quelle: www5.kb.dk/images/billed/2010/okt/billeder/object465198/en/


An welche Melchiors hatte Nina Grieg also ihre recht persönlichen Zeilen gerichtet? Werfen wir einen Blick in den Bestand der Öffentlichen Bibliothek Bergen, welche auf Wunsch von Edvard und Nina Grieg den gemeinsamen Nachlass verwaltet und selbigen online zugänglich gemacht hat. Es zeigt sich, dass Carl Melchior als Adressat im Vorfeld durchaus richtig ermittelt wurde – allerdings haben wir es mit einem Namensvetter zu tun. Unter den hier verzeichneten Korrespondenzpartnern gibt es einen Mann namens Carl Henriques Melchior. Dem Dänischen Biographie-Lexikon zufolge gehörte Carl H. Melchior (1855–1931) einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Kopenhagen an und war in dem Handelsunternehmen Moses & Søn G. Melchior tätig. Womöglich handelt es sich bei der von Nina Grieg erwähnten Harriet um eine von Carl H. Melchiors Schwestern, nämlich um die Malerin Harriet Melchior (1851–1917). Am 2. November 1887 fand dem Lexikon-Artikel zufolge die Hochzeit zwischen Carl H. Melchior und Clara Raphael (1866–1945) statt, also genau an dem Tag, auf welchen der Brief hinweist. Clara Melchior stammte ursprünglich aus London. Dass Nina Grieg ihren Brief auf Englisch geschrieben hatte, war möglicherweise eine Geste der Höflichkeit gegenüber der gebürtigen Engländerin – denn es ist natürlich anzunehmen, dass Clara Melchior, die mit ihrem Mann in Dänemark lebte, die dortige Sprache beherrschte. Auch das Postscriptum könnte in diese Richtung verstanden werden: „I am happy in England [,] all people are so kind to me.“

So lässt sich das Dokument, in dem es um ein Missverständnis geht, nach zwischenzeitlichen Zweifeln doch recht eindeutig beschreiben: es handelt sich um einen Brief von Nina Hagerup Grieg an Clara Raphael und Carl Henriques Melchior, London, 4.11.1912.

Text: Dr. des. Viola Herbst (Mitarbeiterin im Projekt Erschließen, Forschen, Vermitteln)

 
Nina Hagerup Grieg. [o.O.], 1928. Quelle: www.bergen.folkebibl.no/cgi-bin/websok-grieg

Zuletzt bearbeitet: 02.12.2021

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