Januar 2021

Zürcher Neujahrsgeschenk mit Tradition

Titelblatt des Notendrucks "Neujahrsgeschenk ab dem Musiksaal an die Zürcherische Jugend auf das Jahr 1783. Schweizerscenen VI. Stück. Die Zürcherinnen". [Musik: Johann Heinrich Egli. Text: Johann Caspar Lavater]. Zürich, 1783. © Archiv fmg


Passend zum Beginn des neuen Jahres stellt die „Quelle des Monats“ für Januar ein Neujahrsstück dar. Der Notendruck entstand in Zürich Anfang 1783 und reiht sich in eine lange Tradition ein. In der Stadt Zürich hat sich für den 2. Januar, den Bächtelitag oder Berchtoldstag, ein besonderer Brauch herausgebildet, die Stubenhitzen. Im Mittelalter versammelten sich die Zürcher Bürger regelmäßig am Sonntagabend in ihren Zünften und Gesellschaften, um verschiedene Angelegenheiten zu besprechen. Sie trugen zur Beheizung ihrer Stuben im Winter bei, indem sie zum Jahresbeginn Holz oder Reisigbündel lieferten und später einen Geldbetrag zu den Heizkosten leisteten. Ursprünglich überbrachten die festlich gekleideten Kinder der Zürcher Bürger die Stubenhitzen und wurden dafür mit Süßigkeiten oder Getränken belohnt. Auch als die Versammlungen allmählich eingingen und die Öfen nicht mehr befeuert werden mussten, wurde die Tradition fortgeführt und die Süßigkeiten wurden mit Neujahrsschriften ergänzt.

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts – den Anfang machte die Burger-Bibliothek 1645 – werden am Bächtelitag Neujahrsblätter herausgegeben. Dabei handelt es sich um jährlich, zur Jahreswende erscheinende Schriften mit lokalen und regionalen Themen aus Kultur, Gesellschaft, Politik und Heimatkunde. Zu Beginn waren dies meist Kupferstiche, die bald auch pädagogisch ausgerichtete Texte, Erzählungen aus der Schweizer Geschichte, vorbildhafte Biografien etc. an die Jugend gerichtet umfassten. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten, auch wenn die Neujahrsblätter mittlerweile kaum noch auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet sind. Stattdessen entwickelten sie sich zu wissenschaftlichen Publikationen über verschiedene Aspekte aus Geschichte, Kunst, Musik, Naturwissenschaft usw.; der Schwerpunkt der Darstellungen in Bild und Text ist die Kulturgeschichte Zürichs geblieben.

Rasch wurden den pädagogisch-literarischen Neujahrsblättern auch Musikstücke beigelegt, die Neujahrsstücke. Diese Musikbeilagen standen meist in engem Zusammenhang mit dem Thema des Neujahrsblattes und stellten in der Regel eigens dafür komponierte Lieder oder Gesangsstücke dar. Im 17. Jahrhundert gab es in Zürich verschiedene Gesellschaften, die sich zur Geselligkeit der Musik widmeten und Konzerte veranstalteten. So veröffentlichte die Musikgesellschaft „ab dem Musiksaal“ seit 1685 jedes Jahr ein Neujahrsstück. Diese enthielten zu Beginn meist die Vertonung eines geistlichen Gedichts sowie Ermahnungen zu Frömmigkeit und Tugend an die Zürcher Jugend. Nicht alle Neujahrsstücke waren religiösen Inhalts, zunehmend rückte die Schweizer Geschichte ins Zentrum.

Und genau hier kommt die „Quelle des Monats“ ins Spiel: Bei dem Neujahrsgeschenk ab dem Musiksaal an die Zürcherische Jugend handelt es sich um ein solches Neujahrsstück für das Jahr 1783, welches von der Musikgesellschaft „ab dem Musiksaal“ an die Zürcher Jugend ausgegeben wurde. Es enthält das letzte Stück aus der sechsteiligen Reihe Schweizerscenen, die musikalische Darstellung einer Geschichte aus dem Jahre 1298, Die Zürcherinnen. Die sechs Notensätze thematisieren Begebenheiten aus der Schweizer Geschichte (z. B. Schweizerbund und Wilhelm Tell) und erschienen als Neujahrsgeschenke 1778 bis 1783.

Zürich und Herzog Albrecht I. von Österreich: Zürich hatte mit Uri und Schwyz eine Koalition geschmiedet, um sich den Hegemonialbestrebungen Habsburgs entgegenzustellen. Die Zürcher zogen im April 1292 zu einem Kriegszug gegen die habsburgische Stadt Winterthur und wurden vor den Stadttoren von den Habsburgern besiegt. Viele Zürcher verloren ihr Leben und die Stadt Zürich blieb beinahe schutzlos zurück. Albrecht I. versuchte darum, Zürich einzunehmen und belagerte die Stadt. Da die Zürcher Männer umgekommen oder noch auf dem Kriegszug waren, verkleideten sich die Zürcher Frauen als Krieger und zogen – angeführt von Hedwig ab Burghalden – gespornt und bewaffnet auf die Brücken, die Stadtmauern und den Lindenhof, einem Zürcher Hügelzug. Im Glauben, die Zürcher hätten durch ein großes Heer Verstärkung erhalten, gaben die Habsburger die Belagerung auf und zogen ab. So retteten die Zürcherinnen ihre Stadt vor der Verwüstung durch die Habsburger.

Historisch verbürgt sind der Zürcher Feldzug gegen das habsburgische Winterthur im April 1292 – die Zürcher kapitulierten allerdings nach sechsmonatiger Belagerung vor Albrecht I. –, der Bruch des Bündnisses mit Uri und Schwyz und eine zunehmend habsburgfreundliche Stadtpolitik durch die an Einfluss gewinnenden Kaufleute. Noch heute steht Hedwig ab Burghalden bewaffnet als Brunnenfigur auf dem Lindenhof (die Figur gestaltete Gustav Silber 1912). Das Datum 1298 auf dem Sockel dürfte ein Irrtum sein und müsste 1292 lauten (über den Ursprung der beiden Jahreszahlen 1292 und 1298 ließ sich nichts herausfinden).

Kupferstich auf dem Titelblatt des Notendruckes "Neujahrsgeschenk ab dem Musiksaal an die Zürcherische Jugend auf das Jahr 1783. Schweizerscenen VI. Stück. Die Zürcherinnen". [Zeichnung als Vorlage für den Stich:] Johann Martin Usteri. [Stich:] Johann Rudolf Schellenberg Zürich, 1783. © Archiv fmg


Die Kupferstich-Vignette auf dem Titelblatt des Neujahrsgeschenks von 1783 zeigt die Schlüsselszene aus der Erzählung von den Zürcherinnen 1292: Die Zürcher Frauen und Kinder stehen mit Harnisch, Waffen und Trommel an der Brüstung des Lindenhofs und simulieren eine gut bewachte und geschützte Stadt. Unter dem Bildrand geben zwei Unterschriften en miniature die Künstlernamen preis: Auf der linken Seite steht „Usteri del.“ (del. = delineavit, lat. „hat es gezeichnet“), auf der rechten Seite „Schellenberg sculp.“ (sculp. = sculpsit, lat. „hat es gestochen“). Der Schweizer Maler und Dichter Johann Martin Usteri (1763–1827) zeichnete die Vorlage für den Kupferstich, der von dem Maler und Kupferstecher Johann Rudolf Schellenberg (1740–1806) ausgeführt wurde. Deutlich im Vordergrund stehen die bewaffneten Frauen, im Zentrum mit dem Blick zur*zum Betrachter*in die Anführerin Hedwig ab Burghalden.

Diese Schlüsselszene ist auch im Musikstück vertont. Der hier anonym veröffentlichte Text wird den Noten vorangestellt und besteht aus einem Dialog zwischen den Zürcher Frauen, aufgeteilt in Mütter und Töchter, der in einen gemeinsamen Chor mündet. Mütter und Töchter ermutigen zum Handeln, statt zu klagen, rufen Gott als Helfer an, beschreiben, wie sie sich bewaffnen und schließlich nach draußen ziehen. Gemeinsam stimmen sie in den abschließenden Aufruf ein:

Hinaus! Hinaus! Mit Feldgeschrey!
Es funkeln Helm und Speere!
Der Glaub an GOtt und Muth und Treu
Macht aus dem Häufchen Heere!
Entflieht der Feind uns: Ehre sey
Nur GOtt im Himmel Ehre!


Erste Notenseite des Notendrucks "Neujahrsgeschenk ab dem Musiksaal an die Zürcherische Jugend auf das Jahr 1783. Schweizerscenen VI. Stück. Die Zürcherinnen". [Musik: Johann Heinrich Egli. Text: Johann Caspar Lavater]. Zürich, 1783. © Archiv fmg


Das Musikstück ist für ein- bis zweistimmigen Frauengesang mit Cembalobegleitung angelegt, für den Schlusschor sind es drei Frauen- und eine Männerstimme. Rezitativische und liedhafte Abschnitte wechseln sich ab und sorgen für eine abwechslungsreiche Vertonung mit melodramatischen Anklängen. Leicht singbare Melodien und eine klar strukturierte, meist akkordisch-homophone Begleitung kennzeichnen die Gesangpassagen und sorgen für eine gute Textverständlichkeit, während die instrumentalen Teile effekt- und wirkungsvoll ausgestaltet sind.

Zwar ist weder ein*e Textdichter*in noch ein*e Komponist*in angegeben, sie lassen sich aber leicht erschließen. Den Text verfasste der Schweizer Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741–1801) mit der nicht korrekten Jahreszahl 1298 (ob die falsche Jahreszahl durch Lavater überliefert wurde oder schon früher, konnte nicht ermittelt werden). Die Musik komponierte der mit Lavater befreundete Schweizer Komponist und Musikpädagoge Johann Heinrich Egli (1742–1810), der auch als Orchestergeiger im „Musikkollegium auf dem Musiksaal“ tätig war – auf diese Weise schließt sich der Kreis zur Musikgesellschaft.

Die Vertonung einer Schweizer Erzählung als Neujahrsgeschenk an die Zürcher Jugend bringt dieser die eigene Geschichte näher. Die Melodien waren auch für ungeübte Sänger*innen rasch fass- und singbar und ermöglichten das Musizieren dieser Schweizer Musik. So entstand aus den Stubenhitzen eine pädagogische musikoliterarische Tradition, die bis heute fortlebt.

Text: Dr. des. Frédérique Renno (Ehemalige Doktorandin, Betreuung der Dissertation durch Susanne Rode-Breymann, Leiterin des fmg)

 

Zuletzt bearbeitet: 03.05.2021

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