März 2021
„Kommt, Ihr ernsten, großen Kinder, die Ihr noch immer so gern den bunten Märchen lauscht“
„Kommt, Ihr ernsten, großen Kinder, die Ihr noch immer so gern den bunten Märchen lauscht, jenen lockenden Bildern einer süßen Traumwelt, kommt mit Euren von der rauhen Wirklichkeit ermatteten Herzen, Euren traurigen Augen, ich will Euch von einem Reiche erzählen, dessen Wunderkraft Ihr nimmer ahnt, dessen üppige Schönheit, in blendende Schleier gehüllt, die Sinne doppelt reizt und die Seele aufglühen läßt in heißester Sehnsucht und ungestümem Verlangen.“ (Elise Polko, „Die Sirenen“, in: Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen, 1. Reihe, Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1868, S. 248–253, hier: S. 248.)
Mit der Quelle des Monats März lädt das fmg in eine wundersame und unwirkliche Welt ein, die die Schriftstellerin Elise Polko (1823–1899) mit ihren Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen geschaffen hat. Es gehört zum Wesen von Märchen, dass sie frei erfunden sind, dass hier eigentlich unmögliche Dinge möglich sind. Märchen stecken voller Wunder und Weissagungen, eigentümlichen Mächten und sprechenden Tieren. Elise Polko bewegte sich nur allzu gern in dieser „süßen Traumwelt“ und ließ ihrer Phantasie beim Verfassen der Geschichten freien Lauf. Der besondere Reiz ihrer Musikalischen Märchen liegt aber darin, dass Elise Polko hier Personen mitwirken ließ, die es wirklich gegeben hat. Elise Polko hatte einst eine Gesangslaufbahn eingeschlagen und war sehr interessiert an allem, was mit Musik zu tun hatte, und so lag es für sie nahe, dass sie für ihre Geschichten zumeist Komponisten oder Sängerinnen auswählte.
In „Maria“ erzählt Elise Polko von den Nachtigallen, die zwar mit einer besonders schönen Singstimme gesegnet wären, jedoch dafür einen frühen Tod sterben müssten. Allerdings könnten die Vögel ihre Stimme „an ein reines bittendes Menschenkind“ (Elise Polko, „Maria“, in: Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen, 1. Reihe, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1868, S. 239–247, hier: S. 234.) verschenken und dadurch ihr Schicksal abwenden – was aber nur äußerst selten geschehe. In ihrer Geschichte nun ist es ein Mädchen, „zart und traumhaft lieblich wie eine Elfe“ (Ebd. S. 240), das sich – nichtsahnend von allen Prophezeiungen – wünscht, ein solcher Singvogel zu sein. Und so wird aus dem Mädchen einige Jahre später eine umjubelte Sängerin, „es war die Königin des Gesanges: Maria Malibran-Garcia“, wie Elise Polko am Ende ihres Märchens auflöst. „Sie ist dahin, die Gefeierte, sie starb, ihr wißt es ja Alle, wie eben eine Nachtigall sterben muß: der Stern ihres Daseins erlosch inmitten des strahlendsten Leuchtens.“ (Ebd. S. 246–247.)
Das Märchen mit dem Titel „Eine Leonore“ dreht sich um die Oper Fidelio von Ludwig van Beethoven. Hartnäckig weigert sich der Komponist in dieser Geschichte, sein einziges Bühnenwerk zur ersten Aufführung bringen zu lassen, da er keine geeignete Sängerin für die Partie der Leonore finden würde. Schließlich lässt sich Ludwig van Beethoven darauf ein, mit der jungen Sängerin Wilhelmine Schröder zu proben, die die Leonore letztlich „hinaus in die Welt“ (Elise Polko, „Eine Leonore“, in: Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen, 1. Reihe, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1868, S. 424–439, hier: S. 438.) trägt.
Historische Persönlichkeiten, die Benennung von Orten, von konkreten Jahreszahlen und nicht zuletzt von verbürgten Ereignissen, die Elise Polko aufgriff – all dieses kann auf eine biographischen Darstellung hinweisen, die für sich historiographische Wahrheit beansprucht. Diese gilt in Elise Polkos Geschichten nur bedingt, mit denen sie weniger informieren als unterhalten wollte. Die Bezeichnung als Märchen entband sie im Grunde auch von einem Anspruch auf Belegbarkeit, sodass sie sich frei zwischen Fakten und Fiktion bewegen konnte und dabei ihre Leserinnen und Leser immer im Unklaren ließ, ob etwas wahr oder erfunden war. Dass die gefeierte Sängerin Maria Malibran (1808–1836) vermutlich nicht bereits mit 28 Jahren in Folge eines schweren Reitunfalls sterben musste, da sie die zauberhafte Stimme von einer Nachtigall bekommen hatte, was untrennbar mit dem Schicksal eines frühen Todes verbunden war, sollte auf der Hand liegen. Und Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860) trug ab 1822 in ihrer Darstellung als Leonore zwar wesentlich zum Erfolg der Oper Fidelio von Ludwig van Beethoven bei. Allerdings war sie bei den ersten Aufführungen der verschiedenen Versionen des Stückes zwischen 1805 und 1814 nicht beteiligt – dafür war sie schlichtweg zu jung. Elise Polko, die sich in der Musikwelt gut auskannte, wusste das natürlich. Die Vorstellung aber, dass es sich so wie in ihrem Märchen zugetragen hätte, fand Elise Polko indes äußerst reizvoll, wie sie einmal einem Kritiker gegenüber erläuterte. Tatsächlich wurde Elise Polko oftmals dafür angegriffen, dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Auf der anderen Seite waren ihre Musikalischen Märchen überaus beliebt und brachten ihr den Namen „Märchenprinzessin“ ein.
Elise Polko hatte die Geschichten zwischen 1847 und 1850 zunächst anonym in einer Zeitschrift veröffentlichen lassen – seinerzeit hieß sie noch Elise Vogel und war eine aufstrebende Sängerin. 1852 wurden die Märchen unter Angabe ihres Namens in einem Buch herausgegeben, welches in den folgenden Jahren immer wieder neu aufgelegt und zunächst erweitert wurde, sodass es zumeist in zwei sogenannten Reihen erschien. Auch im Bestand des fmg befinden sich mehrere Bände der Musikalischen Märchen von Elise Polko, darunter die dritte Auflage der zweiten Reihe von 1866, die neunte Auflage der ersten Reihe von 1868, die 17. Auflage der ersten Reihe von 1879 sowie ein Band von 1922. Die hohen Auflagen zeugen davon, dass sich die Geschichten seinerzeit gut verkaufen ließen und sehr beliebt gewesen sein müssen. Offensichtlich gab es viele Menschen, vielleicht mit „von der rauhen Wirklichkeit ermatteten Herzen“, die gerne den „bunten Märchen“ lauschten und sich von Elise Polko in eine „süße Traumwelt“ mitnehmen ließen. Zur rauen Wirklichkeit im Leben Elise Polkos gehörte übrigens, dass ihr der märchenhafte Erfolg ihrer Geschichten zwar zeitlebens Ruhm beschert haben dürfte, allerdings auf Dauer kein volles Portemonnaie: bereits 1875 trat sie gegen eine einmalige Zahlung die Rechte an ihren Musikalischen Märchen an den Verlag Johann Ambrosius Barth in Leipzig ab, da sie sich in finanziellen Schwierigkeiten befand, und war daher an allen folgenden Auflagen nicht mehr beteiligt.
Text: Viola Herbst (Mitarbeiterin im Projekt Erschließen, Forschen, Vermitteln)
Zuletzt bearbeitet: 04.06.2021
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