Mai 2021
Mathilde Marchesis Brief an einen (un-)bekannten Verleger
Das Jahr 1881 war für Mathilde Marchesi turbulent, tragisch und von Veränderungen geprägt. Die gefeierte Sängerin und anerkannte Gesangsprofessorin musste im Januar den Tod ihrer erst 21-jährigen Tochter Stella betrauern, die von der Zeitschrift Musikalisches Wochenblatt als „vielversprechende Künstlerin“ posthum geehrt wurde (Musikalisches Wochenblatt 12/3 (1881), S. 34.). Aus Sorge um den Gesundheitszustand ihrer jüngsten Tochter beschloss die Familie, im Spätsommer von Wien nach Paris umzuziehen.
In die Zeit kurz vor dem Umzug fällt der vorliegende Brief vom 16. Juli 1881 an einen nicht namentlich genannten Musikverleger. Marchesi befindet sich hier im anfänglichen Entstehungsprozess eines Albums, das sie zusammenstellen und publizieren wollte. Sie schlägt dem Verleger dazu einige „passende u. effektvolle Concertstücke“ vor, welche ihre Schülerinnen „immer mit größtem Erfolg singen“. Im Brief ist erkennbar, dass sie zunächst 27 Stücke vorschlagen wollte, die Zahl dann aber schließlich in 28 änderte. Neben den Titeln von 26 Arien verschiedener Komponisten sind auch ein Stück von ihr selbst und eins von ihrem Ehemann Salvatore enthalten. Nun stellt sich einerseits die Frage, an welchen Verleger der Brief gerichtet ist und andererseits, ob die Inverlagnahme dieses Albums zustande gekommen ist. Ganz typisch für derartige Korrespondenzen sind Wünsche zu bestimmten Werken, aus denen Hinweise über das geplante – und möglicherweise verwirklichte – Verlagsprodukt hervorgehen können.
Marchesi nennt zunächst zwei Werke, die „wegbleiben“ können: Lucrezia di Borgia und Maria di Rohan, beides Opern von Gaetano Donizetti. Es scheint also erst einmal unwahrscheinlich, dass diese in das Endprodukt aufgenommen wurden. Weiterhin spricht sie von der „Barbier Aria“, welche als eine Arie aus Gioachino Rossinis Il barbiere di Siviglia identifizierbar ist. Bei den „Variationen von Rode“ dürfte es sich um die Air varie, op. 10 von Pierre Rode handeln. Von Mathilde Marchesi stammen Variationen mit angefügter Kadenz, ihr Mann trägt einen Walzer (gekürzt) bei. Außerdem übersetzte er die „Proch’schen Variationen“ und die „russische Nachtigall“ von Alexander Alabieff ins Italienische.
Am Ende des Briefs bittet sie den Verleger, ihr die Noten der Arien zuzusenden und hängt selbst ihr eigenes Werk und das ihres Mannes an. Die Manuskripte sind allerdings in der vorliegenden Quelle nicht überliefert.
Einen Hinweis auf eine mögliche Inverlagnahme des Albums bietet der Blick in die Hofmeister’schen Monatsberichte vom Oktober 1881:
Hier wird eine beim Leipziger Petersverlag herausgegebene „Coloratur-Arien”-Sammlung genannt, allerdings ist der genaue Inhalt nicht weiter angegeben. Eine Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Signale für die Musikalische Welt nennt in einer Anzeige dieses Albums „20 beliebte Arien von Mozart, Rossini, Bellini, Donizetti etc.”, was darauf hinweist, dass – sofern es sich um das genannte Album handelt – nicht alle Werke übernommen wurden (Signale für die Musikalische Welt 39/56 (1881), S. 893.). Inhaltlich werden jedoch bereits Komponisten erwähnt, die Marchesi in ihrem Brief ebenfalls nennt. Der genaue Inhalt wird schließlich in einem Verlagskatalogeintrag aus dem Jahr 1900 ersichtlich:
Damit bestätigt sich die Annahme, dass es sich um das bei Peters verlegte Werk handelt. Allerdings fällt auf, dass hier 23 Werke aufgelistet sind und die Werke des Marchesi-Ehepaars fehlen, ebenso wie die Proch’schen Variationen. Es ist also unklar, ob diese Werke in dieser späteren Auflage gestrichen oder ob sie gar nicht erst ins Repertoire integriert wurden. Dass hier jedoch drei Werke hinzugefügt wurden, die in der Erstausgabe nicht vorhanden waren, spricht dafür, dass der Verlag das Album nach und nach erweiterte und (möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen) erst später Marchesis Wünsche berücksichtigen konnte. Die Stücke, die „wegbleiben“ durften, sind hier jedoch aufgenommen worden. Darüber hinaus gibt es allerdings eine aktuelle Version aus dem Jahr 2002, die der Verlag bis heute unter der EP-Nummer 2074 auflegt. Einige Lieder von Marchesis Ehemann sind hier enthalten, ihre eigenen hingegen nicht. Die fortdauernde Inverlagnahme spricht erst einmal für einen Erfolg des Albums; doch (wie) lässt sich dieser quantitativ messen?
An der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ wird derzeit zusammen mit der SLUB Dresden in einem von der DFG geförderten Projekt eine Musikverlagsdatenbank angelegt, die Auskunft über Wirtschaftszahlen verlegter Noten bietet. Dort wird auch dieses Albums erfasst. Als Quelle dient hier u. a. ein Auflage-Buch, welches als Digitalisat auf der Internetpräsenz des Sächsischen Staatsarchvis einsehbar ist:
Insgesamt wurde das Album 20.500-mal im Zeitraum von September 1881 bis Januar 1938 verlegt; zusätzlich gab es von 1902 bis 1905 noch 450 Ausgaben für Alt-Stimme. Die relativ hohen Auflagenzahlen – manchmal sogar bis zu 1.500 pro Druck – bestätigen die Annahme, dass sich das Werk gut verkauft haben muss, da Peters in der Regel erst nachdruckte, wenn der Restbestand (fast) leer war. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, zu überprüfen, ob sich diese Zahlen mit Änderungen der Ausgaben (z.B. durch Hinzufügen oder Streichen von Werken) ändern. Die im 1900er-Katalog genannte Ausgabe mit 23 Stücken muss spätestens 1888 gedruckt worden sein, könnte also mit der Auflage von 1.000 Drucken korrelieren, was jedoch noch genauer zu überprüfen wäre.
Aufgrund der pandemiebedingten Schließung des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig konnte leider nicht überprüft werden, ob ein Antwortschreiben des Petersverlags und möglicherweise weitere Briefe von Marchesi erhalten sind. Vielleicht findet sich hier eine Erklärung, warum ihre eigenen Werke nicht in das Album aufgenommen wurden. Im Verlauf meiner Dissertation zum Thema „Frauen und Musikverlage“ werde ich dies in Zukunft jedoch unbedingt weiterverfolgen.
Text: Elisabeth Posnjakow (Stipendiatin des fmg)
Zuletzt bearbeitet: 04.06.2021
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