November 2021
Alma Mahler bei den Bayreuther Festspielen
1899 reiste Alma Schindler, später Alma Mahler-Werfel, erstmals zu den Bayreuther Festspielen. Die knapp Zwanzigjährige kam gut vorbereitet. In den Jahren zuvor war sie wieder und wieder in die Oper gegangen. In vier Jahren vermerkt sie 63 Opernbesuche in ihren Tagebuch-Suiten (Alma Mahler-Werfel. Tagebuch-Suiten 1898-1902, hg. von Antony Beaumont und Susanne Rode-Breymann, Frankfurt 1997. Im Folgenden zitiert als "Tagebuch-Suiten"). Ein junger Mensch, der so oft in die Oper geht, Ohren hat und die Opern im Klavierauszug studiert, erwirbt Kennerschaft. Noch sammelte sie ihr musikalisches Wissen über die Oper an einem qualitativ herausragenden Ort, in der Wiener Hofoper, in der die ersten Sängerinnen und Sänger mit einem neuen Anspruch darstellerischer Wahrhaftigkeit und Intensität auftraten, in der Gustav Mahler dirigierte und gemeinsam mit Alfred Roller neue Dimensionen der Bühnengestaltung etablierte und in der ein großartiges Ensemble sang und Mahlers Weg der szenischen Erneuerung mit ging.
Von Richard Wagner sah sie in der Zeit zwischen 1898 bis Ende 1901, hier nach dem Datum der ersten von ihr besuchten Vorstellung sortiert:
- Siegfried: 11.02.1898, danach bis März 1901 fünf Mal
- Walküre: 06.04.1898, danach bis Ende 1901 sechs Mal
- Götterdämmerung: 17.05.1898, danach bis Ende 1900 sechs Mal
- Tristan und Isolde: 22.05.1898, danach bis Ende 1901 fünf Mal
- Tannhäuser: 25.12.1898, danach bis Ende 1899 ein Mal
- Parsifal: 31.07.1899 in Bayreuth
- Die Meistersinger von Nürnberg: 01.08.1899 in Bayreuth, danach bis Ende 1901 fünf Mal in Wien
- Lohengrin: 01.10.1899, danach bis Ende 1900 noch ein Mal
- Der fliegende Holländer: 10.11.1899, danach bis Ende 1900 noch ein Mal
- Rheingold: 03.12.1899, danach bis Ende 1900 noch ein Mal
Alma Schindler hatte deutliche Prioritäten: Auf der einen Seite standen für sie der Fliegende Holländer und Lohengrin, auf der anderen Seite Tristan und Isolde und der Ring. Sie sei „nie enttäuschtester aus einer Oper“ weggegangen als aus dem Holländer, schreibt sie am 10. November 1899: „Das ist nicht Wagner. Das ist ein Mensch, sich selbst unbewusst, an seine Zeitgenossen anlehnend. Man merkt den großen Einfluss Meyerbeers und der Italiener. In manchen Stellen offenbart sich schon seine Individualität. Z.B. Ouverture, Spinnerbild […]. Vor allem, wo es darauf ankommt, das Meer zu characterisieren, da wird er herrlich und groß, denn die Natur hat er damals schon verstanden.“ ("Tagebuch-Suiten", S. 390 f.) Lohengrin kann sie allmählich etwas abgewinnen.
Ganz anders ihre Einträge über Tristan und Isolde: am 22. Mai 1898 notiert sie, diese Oper sei „unvergleichlich, überirdisch. – Das sind eines Gottes Gedanken, nicht die eines Menschen.“ ("Tagebuch-Suiten", S. 56.) Am 24. Oktober 1899 erhob sie Tristan und Isolde schließlich in den Rang der „Oper aller Opern. Dieses fortwährende Anschwellen und Nachlassen, diese wahnsinnige Leidenschaft und dieses maßlose Sehnen – nach etwas, was da ist und was wir nicht erkennen. Wagner ahnte es! Ich liebe dieses Werk wie meinen Faust. Auch hier ist das Sehnen nach etwas Unerkanntem, Geahnten, nie Erkennbaren. Die beiden größten Genies, die sich in einem Gedanken die Hände reichen.“ ("Tagebuch-Suiten", S. 385.) Wiederum verlängerte sie den Opernbesuch am folgenden Tag am Klavier und spielte die ersten beiden Akte – „hingerissen von dem unsterblichen Werk.“ ("Tagebuch-Suiten", S. 385.) Tristan und Isolde wurde ihr emotionaler Projektionsraum, ein Raum auch für intime Phantasien.
Die Bewunderung für die Musik ging einher mit der Begeisterung für Sängerinnen und Sänger: Anna von Mildenburg etwa, die sie in verschiedenen Wagnerrollen sah (als Brünnhilde, als Ortrud in Lohengrin, als Venus in Tannhäuser, als Senta im Fliegenden Holländer), bejubelt sie mit Adjektiven wie glänzend oder grandios. Noch mehr zog sie Lilli Lehmann in den Bann, die ab 1882 an der Wiener Hofoper sang. Am 17. Mai 1898 preist sie sie als Wagner-Sängerin in höchsten Tönen: Lilli Lehmann (Brünnhilde) „zum Niederknien – anbetungswürdig, eine solche Hoheit, ein solches Singen, ein solches Spiel. Große Künstlerin und große Frau! Und die Götterdämmerung … das verdienen die Menschen gar [nicht] – sie würdigen, verstehen es ja gar nicht, was dieses Maler-Musiker-Dichter-Genie geschaffen hat – für sie, für die Menschheit, zum allgemeinen Wohl.“ ("Tagebuch-Suiten", S. 55.)
Unter den Sängern war der Tenor Erik Schmedes Alma Schindlers unangefochtener, alle anderen übertreffender Star: Erik Schmedes in der Walküre am 6. Mai 1898: brillant, Schmedes in Siegfried am 22. September 1899: glänzend, Schmedes in der Götterdämmerung am 24. September 1899: unübertrefflich. Beim nächsten Ring, den Alma Schindler im Dezember 1899 in Begleitung von Marie und Hugo Henneberg erlebte, sang Erik Schmedes Froh in Rheingold, das Alma Schindler erstmals erlebte, sowie Siegfried in Siegfried und Götterdämmerung.
Gleichwohl war Alma Schindlers Beschäftigung mit Richard Wagners Opern nicht nur rauschhaft, sondern sie schärfte dabei ihre musikalische Wahrnehmung, beobachtete während der Götterdämmerung am 26. März 1900 die Stimmführung und richtete ihre Aufmerksamkeit bei der nächsten Vorstellung am 11. Mai 1900 auf die Orchestrierung. Das machte sie für die künstlerischen Verdienste Gustav Mahlers empfänglich: Die Opern Wagners wurden in Wien vor der Ära Mahler gekürzt aufgeführt. Im Herbst 1898 dirigierte Gustav Mahler die Ring-Tetralogie erstmals ohne Striche und machte das Wiener Publikum z.B. mit der Nornenszene der Götterdämmerung bekannt, die zuvor noch nicht in Wien erklungen war. Es setzte höchste Maßstäbe, dass Alma Schindler Richard Wagners Opern in den Dirigaten von Gustav Mahler kennenlernte.
Gemeinsam mit Marie und Hugo Henneberg reiste die Familie Moll-Schindler im Jahr 1899 von Salzburg über München nach Bayreuth, blieb dort vom 30. Juli bis 2. August, und reiste mit Zwischenstation und Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten in Nürnberg am 3. August 1899 wieder zurück nach Salzburg. Bayreuth nennt Alma Schindler ein ödes Nest und das Hotel Sonne ein Räuberhotel. Aber es geht um Wagner, so dass gleich die Villa Wahnfried besichtigt und den Aufführungen entgegenfiebert wird: Alma Schindler sah zwei Wagner-Opern bei den Bayreuther Festspielen, die sie zuvor noch nicht in Wien gesehen hatte: Parsifal am 31. Juli 1899 mit Alois Burgstaller als Parsifal und den beiden in Bayreuth-Debütierenden: Milka Ternina von der Münchner Hofoper als Kundry und Ernst Kraus von der Berliner Hofoper als Gurnemanz sowie Die Meistersinger von Nürnberg am 1. August. In dieser Aufführung hörte sie nochmals Ernst Kraus (als Walther von Stolzing) und schreibt: „Ernst Kraus aber ist mein neuer Bühnenabgott geworden! Er ist schön, hat eine mächtige Stimme, kann was und hat ein fascinierendes Wesen.“
Genaueres über Ernst Kraus‘ Mitwirken in Bayreuth lässt sich aus einem Briefkonvolut erfahren, das 2017 als Schenkung von Eva Rieger in die Sammlung des fmg kam. Es ist ein Konvolut von 23 Briefen, bzw. Karten von Cosima Wagner (teils in Handschrift von Daniela und Eva Wagner) an Ernst Kraus (1863-1941) aus der Zeit zwischen dem 27. Mai 1898 und dem 21. Juli 1905.
Im Brief vom 27. Mai 1898 bahnt Cosima Wagner das von Alma Schindler miterlebte Bayreuth-Debüt von Ernst Kraus an:
Sehr geehrter Herr!
Herr Professor Klindworth, der Sie in meinem Austrage besuchte, teilt mir zu meiner grossen Freude mit, dass Sie gern in unserer Künstlergenossenschaft sich einreihen und Ihr Talent unserer Bayreuther Sache widmen wollen.
Ihnen darüber meine herzliche Freude ausdrückend, frage ich bei Ihnen an, ob es Ihnen möglich sein würde, Anfangs Juni behufs Besprechung hierher zu kommen. Ich verlasse Bayreuth am 7. Juni.
Könnten Sie in der ersten Woche nicht, so würde ich um Ihren geschätzten Besuch für Anfangs Juli bitten, wo ich sicher zurück sein werde.
Es handelt sich in erster Linie um die Besetzung von Walther Stolzing. (die Meistersinger werden nächstes Jahr fünfmal hier gegeben).
Über Parsifal und Siegmund würden wir uns verständigen.
Was die geschäftlichen Bedingungen anbetrifft, so wird der Verwaltungsrath unserer Festspiele sich mit Ihnen darüber in das Einvernehmen setzen. Dass wir keine geschäftliche Unternehmung sind, wissen Sie, sehr geehrter Herr, gewiss.
In diesem Jahre halten wir keine Proben. Wir arbeiten nur die Parthien mit denjenigen Künstlern durch, die sie entweder gar nicht oder nicht genug können.
Empfangen Sie, sehr geehrter Herr, mit dem Ausdruck meiner Freude über die Aussicht, Sie in unserer Bayreuther Künstlergenossenschaft aufgenommen zu wissen, den Ausdruck meiner
freundlichsten Hochachtung
CWagner
Bayreuth, 27. Mai 1898.
In den Briefen dieses Konvoluts geht es um ein sorgfältiges musikalisches und darstellerisches Partienstudium, das Cosima Wagner einfordert: Nur auf der Grundlage eines solches Studiums vertraut sie Sängern Rollen an. Die Briefe belegen: wenn Alma Schindler Ernst Kraus zu ihrem neuen Bühnenabgott erklärt, dann ist das nicht die Schwärmerei einer Zwanzigjährigen, deren Begeisterung man belächeln mag, sondern dahinter steht durch kulturelles Handeln von Frauen – hier Cosima Wagner – erwirkte künstlerische Qualität.
Text: Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann
Zuletzt bearbeitet: 02.12.2021
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