Oktober 2021

„Lost Letters“ wiederentdeckt: Neue Forschungsinitiativen zur schwedischen Sängerin Jenny Lind

Erste Seite des Briefes von Jenny Lind an Amalie Wichmann, Northampton, 25. März 1852. Signatur: Rara/FMG Lind,J.17/2 © Archiv fmg


Ausgangspunkt der aktuellen Quelle des Monats ist die Wiederentdeckung der bis vor kurzem verloren geglaubten und daher als „Lost Letters“ in die Forschung eingegangenen Korrespondenz zwischen der schwedischen Sängerin Jenny Lind (18201887) und ihrer Berliner Freundin Amalie Wichmann (18061876) aus den Jahren 1852 bis 1874. Dieses handgeschriebene Briefkonvolut wurde kürzlich vom Archiv des Forschungszentrums Musik und Gender Hannover erworben (siehe auch Beitrag NDR Kultur) und wird derzeit inhaltlich erschlossen sowie erstmals wissenschaftlich systematisch untersucht.

In einem dieser Briefe noch aus Northampton, Amerika, schreibt Jenny Lind am 25. März 1852:

„Ich bin heute seit sieben wochen
schon verheirathet und habe es dir und
den Deinigen noch nicht selbst erzählt;
[...]
Mein geliebter Mann
sieht zwar jung aus, aber ist
viel, viel älter als ich in Besonnenheit,
Tact, Güte. Talent und Uneigennützigkeit.
[...] Sein Namen ist: Otto
Goldschmiedt. Er hat ein schönes Talent
als Pianist [...].“  

Diese Statuspassage der Heirat wird ebenso in der zeitgenössischen biographischen Sekundärliteratur zu Jenny Lind thematisiert, wobei diese zumeist mit dem Narrativ der Beendigung ihrer Bühnenkarriere einhergeht. So heißt es beispielsweise im Personeneintrag des zeitgenössischen Lexikons Men Of The Time von 1875:

„[She] was married to M Otto Goldschmidt, a skilful pianist and conductor, and retired from the stage.“

(Art. „Goldschmidt, Madame“, in: Men of the Time: A Dictionary of Contemporaries, Containing Biographical Notices of Eminent Characters of Both Sexes, by Thompson Cooper, 8. Auflage, London 1875.)

Auffällig ist, dass damit nicht nur ein gängiges musikhistoriographisches Narrativ bedient wird, sondern, dass gleichzeitig auch etliche biographische Publikationen zu Jenny Lind an dieser Stelle – die mit der Heirat vollzogene Beendigung ihrer Karriere als Operndarstellerin – enden, wie etwa die 1891 von Henry Scott Holland und William Smyth Rockstro verfasste zweibändige Biographie Memoir of Madame Jenny Lind-Goldschmidt: Her Early Art-Life And Dramatic Career 1820-1851 (Henry Scott Holland, William Smyth Rockstro, Memoir of Madame Jenny Lind-Goldschmidt: Her Early Art-Life And Dramatic Career 1820-1851, 2. Bd., London / New York 1891). Demgegenüber existieren andere die Biographie der Sängerin erhellende Quellen, die sehr wohl Jenny Linds Leben nach ihrer Heirat berücksichtigen, und hier vor allem hervorheben, dass sie fortan als Konzertsängerin, z.B. in Oratorien oder in Wohltätigkeitsveranstaltungen aufgetreten sei. Diese fanden indes bislang in der forschung kaum Berücksichtigung. Überhaupt fehlt es an neuerer Forschungsliteratur, die auf Basis von Ego-Dokumenten, Presseerzeugnissen usw. das musikkulturelle Handeln Jenny Linds vor allem auch in Kombination mit ihrem Leben als Ehefrau und Mutter in einem umfassenderen Sinne diskutiert.

Vor diesem Hintergrund wurde jüngst im Rahmen eines musikwissenschaftlichen Seminars an der Hochschule für Musik, Theater und Medien (Bagge/Strohmann: “Lost Letters” neu entdeckt. Eine Spurensuche zu Jenny Lind im Archiv, SoSe 2021) das Briefkonvolut transkribiert. Erste wissenschaftliche Erkenntnisse, die einen neuen, differenzierten Blick sowohl auf die Biographie der Sängerin als auch auf ihr Bühnen- und Konzertrepertoire werfen, konnten Maren Bagge und Nicole K. Strohmann im September 2021 auf der Third International Conference on Women’s Work in Music an der Bangor University, Wales präsentieren und diskutieren (Vortragstitel “Changes and Continuities: New Perspectives on the Singer Jenny Lind”). Daran anknüpfend entsteht derzeit eine wissenschaftliche Publikation sowie eine ab Herbst 2022 in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover präsentierte Ausstellung zu Jenny Lind.

Text: Dr. Maren Bagge / PD Dr. Nicole K. Strohmann

 
Jenny Lind. Original-Lithographie. Stich: Emil Baerentzen & Co. Lith. Inst. Stockholm, [ca. 1860]. Signatur: Rara/FMG Lind,J.13 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 26.02.2024

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