Februar 2022

Bahntickets per Postkarte. Oder: Der gemüthlichste Weg aus Paris

Postkarte der Sängerin Selma Kurz an Louis Guttmann. London, 18.6.1924. Signatur: Rara/FMG Kurz,S.1/5 © Archiv fmg


So lässt sich in Kürze der Inhalt einer Postkarte von Selma Kurz wiedergeben, die sie am 18. Juni 1924 versendete. Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie vermutlich im Hyde Park Hotel im Bezirk Knightsbridge in London, denn für dieses wirbt der Vordruck der Karte. In der Stadt war sie für ein Engagement am Royal Opera House Covent Garden. Eine Rezension in der Westminster Gazette berichtete am 7. Juni von der geglückten Rückkehr der Sängerin nach London in einer Inszenierung von Puccinis La Bohème. In der Zeitung Truth erschien am selben Tag, an dem die Postkarte versendet wurde, ein weiterer Artikel über eine besonders gelungene Aufführung von Verdis La Traviata. Sehr zeitnah plante sie aber offenbar ihre Rückreise auf den Kontinent (mutmaßlich nach Wien, da sie dort als Hofopernsängerin engagiert war), denn sie schrieb an ihren Freund, Herrn Louis Guttmann in der Rue Alasseur in Paris, dass sie frühstens am Donnerstag abreisen und am Freitag von Paris aus weiterreisen könne. Der 18. Juni 1924 war ein Mittwoch, gemeint ist demnach vermutlich der Donnerstag der darauffolgenden Woche, also der 26. Juni. Postalisch war eine Antwort binnen eines Tages jedenfalls kaum zu erwarten. Sie und ihr Mann, der Gynäkologe Josef Halban, suchten nach Reisebegleitung für die lange Fahrt - ein ganz alltäglicher Wunsch aller, die schon einmal tagelang in Zügen unterwegs waren und sich der eintönigen Tristesse bewusst sind. Sie schreibt: „Vielleicht können Sie es einrichten mit uns zu reisen. Es wäre viel gemüthlicher.“

Zugleich diente die Anfrage der Beschaffung der für die Fahrt benötigten Bahntickets im Schlafwagen. Wenn er Freitag nicht könne, solle Herr Guttmann Fahrkarten für Samstag besorgen. Eindringlich, aber mit sehr herzlich-freundschaftlichen Worten, bat sie ihn darum, so dass man ihr den Wunsch (auch aus heutiger Sicht) kaum ausschlagen kann und möchte. Ob es zu einer gemeinsamen Zugfahrt kam, lässt sich leider nicht sagen. Dennoch bezeugt die Postkarte nach wie vor den Charme der Sängerin:

Rückseite der Postkarte der Sängerin Selma Kurz an Louis Guttmann. London, 18.6.1924. Signatur: Rara/FMG Kurz,S.1/5 © Archiv fmg


„Lieber Freund Guttmann!
Seien Sie wie immer ein Engel u. machen Sie es möglich[,] dass wir zusammen reisen. Ich kann frühestens am Donnerstag von hier fort. Also könnten wir Freitag von Paris abreisen.
Sind Sie lieb u. gut u. besorgen Sie uns die Schlafwagen für Freitag. Sollten Sie Freitag unmöglich bekommen dann für Samstag. Vielleicht können Sie es einrichten mit uns zu reisen. Es wäre viel gemüthlicher. Vielleicht geht es doch. Herzlichste Grüsse von uns Beiden Ihre Selma Halban-Kurz.“


Selma Kurz debütierte, nach ihrer Ausbildung zur Altistin und dramatischen Sopranistin, 1896 in Frankfurt am Main in der Rolle der Elisabeth in Richard Wagners Tannhäuser. Gefördert von Gustav Mahler zog sie 1899 nach Wien und war ab 1903 Kammersängerin der Wiener Hofoper. Unter anderem war sie an den Uraufführungen von Mahlers Des Knaben Wunderhorn und von Richard Strauss' Ariadne auf Naxos beteiligt. 1910 heiratete sie den Professor für Gynäkologie Josef Halban und nahm den Doppelnamen Halban-Kurz an. Nach der Erhebung ihres Mannes in den Adelsstand trug sie ab 1917 ebenfalls den Adelstitel im Namen. Mit dem österreichischen Adelsaufhebungsgesetz von 1919 wurde dieser jedoch wieder gestrichen, weshalb er auch nicht auf der obigen Postkarte erscheint. Ihren letzten Auftritt gab sie 1927 als Rosina in Gioacchino Rossinis Der Barbier von Sevilla. Bekannt wurde sie insbesondere für ihre Koloraturrollen und ihre Gestaltung der Triller (vgl. z. B. den Eintrag in der Neuen Deutschen Biographie, Bd. 13, München 1982, S. 337–338). Auf ihre technische Brillianz verweist u. a. auch eine englische Zeitungskritik von 1909: „For Mme. Kurz sings as if the scales and ornaments really meant something to her, and were not merely so many difficulties to be overcome with as much brilliance as possible“ („Mme. Selma Kurz. Concert at Albert Hall“, in: Daily News London, 19. März 1909, S. 4). Eduard Hanslick „rühmte an ihr die feine Gesangstechnik, die musterhaft deutliche Aussprache, die reine Intonation“ (Wilhelm Kosch: Deutsches Theaterlexikon. Biographisches und Bibliographisches Handbuch, Bd. 1, Klagenfurt 1953, S. 675). Die Postkarte zeigt, dass auch herausragende Künstlerinnen mit internationalem Ruf, wie Selma Kurz, mit alltäglichen logistischen Fragen und Problemen konfrontiert waren. Ein gewisses Maß an Organisationstalent gehörte also wohl bereits damals zu den Grundkompetenzen von Musikerinnen und Musikern.

Text: Claudius Hille (M.Mus. B.A., Student der Fächer Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Klassische Archäologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Teilnehmer der Summer School 2021 Musikhistoriographie reflektieren – Musikgeschichte schreiben)

 
Selma Kurz in der Rolle der Lakmé. [o.O.], [o.D.] Fotografie: Phot. Pietzner. Signatur: Rara/FMG Kurz,S.1/1 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 01.03.2022

Zum Seitenanfang