Januar 2022
Wege der Überlieferung - Gemeinschaftliches Erinnern an die Komponistin und Dirigentin Johanna Kinkel
Im Forschungszentrum Musik und Gender liegt eine schmale Mappe mit erkenntnisreichem Material über die Bonner Komponistin, Pädagogin, Dirigentin und Schriftstellerin Johanna Kinkel (1810‒1858). Neben einem gebundenen Buch, Acht Briefe an eine Freundin über Clavier Unterricht (1852), finden sich drei weitere Quellen über Johanna Kinkel: ein Brief von ihr an Emil Naumann (1827‒1888), ein Brief des Bonner Shakespeare Forschers Nikolaus Delius (1813‒1888) über die Komponistin und ein Nachruf aus der Zeitung über ihren plötzlichen Tod. Sollte man bisher wenig Kenntnis von Johanna Kinkel haben, so erhält man aus diesem schmalen Konvolut tiefgreifende Einblicke sowohl über Kinkel selbst, als auch über die Wege der Überlieferung dieses Quellenmaterials.
Kinkel schreibt in ihrem Brief von 1840 an ihren Schüler Emil Naumann, der später Hofkirchenmusikdirektor in Berlin wurde:
„Wie du siehst bin ich schon sehr weit aus Europa hinausgeflogen, glaube deßhalb nicht, daß Du nun ungestraft dem Generalbaß auf der Nase tanzen könntest, denn ehe Du 6 verkehrte Übergänge gemacht hast, verrathen mir es meine Katzengeister, ich komme auf den ersten besten Besenstiel ehe Du Dich’s versiehst, durch das Kamin. […] Hier in Marocco habe ich noch wenig Abentheuer erlebt; das liegt aber nicht an mir, sondern am Publikum, welches noch keine sonderliche Notiz von mir genommen.“
Johanna Kinkel wählte einen kreativen Umgang mit ihren Schüler*innen und dachte sich wiederholt Ansporn aus, um sie im Fach Komposition zu motivieren. Neben dieser ausgesprochen humorvollen Aufforderung an Emil Naumann einen ordentlichen Generalbass zu kreieren, veranstaltete sie außerdem alle paar Monate einen Kompositionswettbewerb. In Frau, Musik und Männerherrschaft (1980) zitiert Eva Rieger aus einem Brief von Kinkel an ihre Freundin Laura von Henning aus dem Jahr 1840 (S. 90). Darin berichtet Kinkel, dass sie ihren Schüler:innen im Rahmen des Wettbewerbs die Aufgabe gibt, einen Choral über einen von ihr ausgedachten Bass anzufertigen. Jeder Fehler wurde mit einem Silbergroschen bestraft, von dessen Summe ein gemeinsames Konzert mit Kaffee und Kuchen veranstaltet und mit einer Siegerehrung des feinsten Chorals abgerundet wurde.
Eine weitere Information, die dieser kurze Abschnitt aus dem Brief an Emil Naumann enthält, ist die deutliche Betonung ihres Aufenthalts in Marokko. Dies wirft Fragen auf, da sich der genannte Aufenthaltsort in keiner ihrer Biografien wiederfindet. Um dies zu klären, muss der zweite Brief aus dem Konvolut von Nikolaus Delius zu Rate gezogen werden.
In diesem Brief schreibt Delius 1859, also ein Jahr nach dem Tod von Johanna Kinkel, an seine Cousine („Liebe Cousine“). Der einseitige Brief ist inhaltlich eher unpersönlicher Natur und thematisiert hauptsächlich ein beigelegtes Autograph ‒ eben den zitierten Brief von Johanna Kinkel an Emil Nauman. Hierzu erläutert Delius:
„Es [das Autograph] rührt von der kürzlich verstorbenen Frau
Johanna Kinkel her und kommt aus der Zeit, als
sie auf der Flucht vor ihrem ersten Mann, Mathieux,
war und deshalb ihren Aufenthaltsort nicht angeben
durfte; sie fingierte darum aus Marocco zu schreiben.“
Hieraus wird deutlich, dass Johanna Kinkel, keinesfalls in friedlichen Verhältnissen lebte, sondern nach der Trennung von ihrem ersten Mann, dem Musikalien- und Buchhändler Johann Paul Mathieux (1803‒ ?) wegen seelischer Misshandlung, aus Angst vor Verfolgung in ihren Briefen falsche Aufenthaltsorte angab. Scheidungen waren zu dieser Zeit noch höchst ungewöhnlich. Da ihr aber die Misshandlungen ärztlich attestiert wurden, konnte sie die Scheidung einleiten, welche sich jedoch über zwei Jahre zog. Unterdessen reiste sie trotzdem nach Berlin sowie in andere Städte, wo sie Bekanntschaft mit Felix Mendelssohn und vielen weiteren Musiker:innen der Zeit machte. Bald war sie regelmäßig zu Gast bei Fanny Hensels Sonntagsmusiken, wo sie gemeinsam konzertierten. Während ihrer Berliner Jahre machte sie sich vor allem als Komponistin und Pädagogin einen Namen und finanzierte sich auch darüber.
In dem Brief an seine Cousine macht Delius Hinweise auf das Ableben Johanna Kinkels. In einem dem Konvolut beiliegenden, undatierten Nachruf auf Kinkel aus der Tageszeitung steht, dass sie 1858 in Folge eines Sturzes aus dem Fenster starb. Ob dieser Sturz beabsichtigt war, bleibt bis heute ungeklärt. Jedoch scheint sie zu ihrer Londoner Zeit nicht bei stabiler psychischer und physischer Gesundheit gewesen zu sein, wie Briefe und die Biographie „Johanna Kinkel. Romantik und Revolution“ von Monica Klaus (2008) belegen. Seit 1851 lebte sie mit ihrem neuen Mann Gottfried Kinkel und ihren vier Kindern in London, mit dem sie nach England ins Exil flüchtete.
Auffällig an Delius' Brief ist ein angehefteter Zettel, der aus einer anderen Feder stammt und eine kurze Notiz enthält:
„der erläuternde
Brief ist von
Professor N. Delius.
Johanna Kinkel, früher verehelichte Mathieux
Teilte das Exil in London mit ihrem Manne
Gottfried Kinkel u. starb darselbst am 15ten November 1858
in Folge eines Sturzes aus dem Fenster.“
Der dem Brief angeklebte Papierschnipsel gibt den verschiedenen Ebenen des Erinnerns hier einen Rahmen. Wir haben einen erinnernden Nikolaus Delius, der, aus nicht weiter erläuterten Gründen den achtzehn Jahre alten Brief von Johanna Kinkel (im Brief unterschrieben als J. Mathieux) an Emil Naumann besaß und diesen nach ihrem Tod an seine Cousine weiterleitete. Da wir sowohl den Brief als auch das Autograph heute noch zusammen auffinden, ist davon auszugehen, dass die Adressatin beide Dokumente gemeinsam aufhob und weiterleitete. Außerdem wurde eine Beschreibung der Quelle vorgenommen, was einen ordnenden, nahezu archivarischen Charakter erahnen lässt und die Bedeutung von Johanna Kinkel auch ein Jahr nach ihrem Tode andeutet. Da Delius von Kinkels Brief als „Autograph“ spricht, könnte sich die archivarische Absicht hierin bestätigen.
Leider gibt Delius keine Gründe für das Versenden der Quelle an seine Cousine an, womit uns die Umstände für das Versenden des Briefes verborgen bleiben. Eine Beobachtung ist, dass die Notiz am Brief nur Informationen zum Verfasser des Briefes enthält, nicht aber zur Adressatin. Eine mögliche Hypothese hierzu könnte lauten, dass Delius Cousine den Hinweis verfasste und da sie selbst Adressatin war, die Erwähnung dessen zu naheliegend erschien und deshalb weggelassen oder gar vergessen wurde. Damit könnte ihre Rolle in der Erinnerungsarbeit deutlicher eingeordnet werden, bleibt aber leider aufgrund fehlender biographischer Informationen ungewiss und reiht sich in die Reihe offener Fragen um das Kinkel-Konvolut ein: Weshalb ist Delius in Besitz von Kinkels Brief? Weshalb sendet er diesen ausgerechnet an seine Cousine? Ist sie weiterhin die Verwalterin dieses Nachlasses gewesen? Und hat sie oder ein anderer den Brief mit einem Zettel versehen und es dadurch für wichtig erachtet, sowohl Kinkels als auch Delius' Brief aufzuheben?
Diese Fragen geben Ausblick auf weitere Forschungen zu Kinkel unter Netzwerkperspektive, die gleichzeitig auch die Identität und Rolle der Erinnernden in den Vordergrund rücken. Woran wir festhalten können ist, dass die Quellen den Weg ins Archiv gefunden haben und uns heute einen kurzen, aber eindrucksvollen Einblick sowohl in die facettenreiche Biographie von Johanna Kinkel als auch in die vielschichtige Erinnerungsarbeit um ihre Person ermöglichen.
Text: Mareike Röhricht (Studentin im Studiengang Musikwissenschaft und Musikvermittlung und Teilnehmerin des Seminars "Musikhistoriographie zwischen digitalem Archiv und Online-Enzyklopädie. Auf den Spuren musikkultureller Akteur*innen um Clara Schumann" im Wintersemester 2021/2022)
Zuletzt bearbeitet: 25.10.2022
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