Juni 2022
Regelmäßig werden in der Rubrik „Quelle des Monats“ Raritäten aus dem Bestand des fmg vorgestellt. Die Exponate konnten dank der Finanzierung durch die Mariann Steegmann Stiftung erworben werden und ergänzen den vielfältigen und einzigartigen Archivbestand des Forschungszentrums. Ausstellungsstücke und Exponatbeschreibungen der vergangenen Monate können links im Menü eingesehen werden.
Handzettel zum Konzert „Kontrapunkte V“
Kein handschriftlicher Brief, keine Erstausgabe eines Buchs, kein Notenblatt mit Widmung. Die Quelle des Monats Juni ist ein zweimal gefaltetes, unscheinbares, maschinengeschriebenes Blatt, ein Handzettel auf dem ein Konzertprogramm gedruckt ist: Ein Stück Papier, welches höchstwahrscheinlich zum Zwecke eines Konzertes in großer Stückzahl gedruckt und unmittelbar vor Konzertbeginn an das Publikum verteilt wurde.
Auf den ersten Blick keine wertvolle Rarität also, da es eine Kopie unter vielen ist. Als Dokument zur Rekonstruktion des Aufführungsereignisses – ein sogenanntes performance ephemera also – ist es jedoch etwas sehr erhaltenswertes, da es nur am Tag des Konzerts an die anwesenden Konzertbesucher:innen verteilt wurde. In den seltensten Fällen überdauert ein solches Dokument den Zahn der Zeit, da es oft achtlos entsorgt wird. Mit dem Dokument verschwinden dann auch allzu oft die Informationen zur Aufführung und geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Dabei manifestiert sich in einem solchen Handzettel, was wann wo von wem tatsächlich gespielt wurde. Auch lassen sich durch weitere Recherche und musikhistorische Kontexte auf dem Handzettel fehlende Informationen ergänzen.
Nun aber zum Dokument selbst: Die Überschrift lautet „Kontrapunkte V“. Ob es sich dabei um das fünfte Konzert eines Festivals, einer Konzertreihe oder lediglich den Titel des Konzerts selbst handelt, ist nicht gewiss. Dem Zettel lässt sich nur entnehmen, dass dieses Konzert an einem 10. April um 11:00 Uhr stattfand.
Sowohl der Veranstaltungsort als auch das Jahr sind nicht vermerkt. Beides lässt sich jedoch rekonstruieren. Das Konzert kann nicht früher als 1982 stattgefunden haben, da das erste und jüngste Stück Descensio von Sofia Gubaidulina erst am 30. April 1981 in Paris zur Uraufführung kam. In vielen ihrer Werke setzt sich die Komponistin mit christlichen und biblischen Geschichten und Motiven auseinander, so auch in diesem: Das ca. 13-minütige Werk für Posaunen, Schlagzeug, Klavier, Harfe, Celesta und Cembalo nimmt direkt Bezug auf den Abstieg Jesus in die Unterwelt am Tag nach seiner Kreuzigung, also dem Karsamstag. Es musizierten Hermann Bäumer, Christhard Gössling, Olaf Ott (Posaune), Marie-Pierre Langlamet (Harfe), Majella Stockhausen (Celesta und Klavier), Markus Becker (Celesta und Cembalo) Franz Schindlbeck, Rainer Seegers und Fredi Müller (Schlagzeug).
Anschließend spielte das Philharmonische Bläsersextett Berlin die Suite Mládi von Leoš Janáček, mit welcher der Komponist Anbetracht seines hohen Alters seine Kindheit und Jugend musikalisch reflektierte. Es ist das einzige Stück auf dem Handzettel, auf dem das Jahr der Uraufführung (1924) vermerkt wurde. Den Titel – welcher auf deutsch „Jugend“ bedeutet – hat man den Vorbereitungen auf seinen 70. Geburtstag zu verdanken. Janacek versorgte diesbezüglich seinen Biographen mit Material aus seinem Leben. Das Stöbern durch die Aufzeichnungen seiner Jugend rief Erinnerung in ihm wach, die er in den Sätzen der Suite verarbeitete. Klanglich erweiterte er das übliche Bläserquintett um Bassklarinette und Piccolo-Flöte. Dieses Stück spielten Michael Hasel (Flöte), Andreas Wittmann (Oboe), Walter Seyfarth (Klarinette), Henning Trog (Fagott), Fergus McWilliam (Horn) und Manfred Preis (Bassklarinette) vom Philharmonischen Bläsersextett Berlin. Ähnlich wie Gubaidulinas Werk spielt ein gewisser Gedanke an die Vergänglichkeit des Lebens in diesem Werk eine tragende Rolle: U.a. im zweiten Satz stellt der Komponist ein slawisches Trauerthema in des-Moll in vier Variationen vor.
Das Motiv des Erinnerns wird in Strawinskys dreisätzigem In Memorian Dylan Thomas (1954) dann noch expliziter. Umrahmt von zwei Trauerkanons vertont der Komponist hier ein Gedicht des Lyrikers. Es sang der Tenor Philip Langridge und es musizierten das Philharmonia Quartett Berlin bestehend aus Daniel Stabrawa (Violine) Christian Stadelmann (Violine) Neithard Resa (Viola) und Jan Diesselhost (Violoncello). Unterstützt wurden sie von vier Posaunisten, von denen nur Wolfram Arndt nicht auch schon bei Descensio mitgespielt hatte.
Den Abschluss des Konzerts bildete die Sonate für zwei Klaviere und Schlagwerk (1938) von Béla Bartók, bei dem der Komponist eine ungewöhnliche Aufstellung der Instrumente vorsah: Im Vordergrund zu beiden Seiten die Pianisten mit dem Rücken zum Publikum, im Mittelgrund rechts die Pauken, links die Xylophone und die Bass Drum, im Hintergrund Triangel, Tam Tam und Cymbals. Die Interpret:innen für dieses Werk speisen sich aus den Pianist:innen und den Schlagzeuger:innen der Descensio-Besetzung.
Das Konzert fand vermutlich ohne Pause statt und hatte eine geschätzte Länge von ca. 75 Minuten. Gemeinsam ist allen vier Werken, dass es Kammermusikkompositionen osteuropäischer Komponist:innen sind (Russland, Tschechien, Ungarn), Gubaidulina ist dabei die einzige Frau. Die Werke decken einen musikhistorischen Zeitraum von fast 60 Jahren ab. Bis auf das letzte Stück ist ein klares Themenfeld dieses Konzerts zu erkennen: Erinnerung, Tod und Trauer. Ein solches Thema mutet zunächst befremdlich für ein Konzert um 11 Uhr an. Der Apriltermin und das Thema lassen jedoch den Schluss zu, dass es sich um ein Karsamstags-Konzert handeln könnte. Da an diesem Feiertag der Grabesruhe Jesus gedacht wird und sich zudem Gubaidulinas Werk explizit mit diesem Tag auseinandersetzt, wäre dieses Programm dann doch passend. In den Jahren nach der Uraufführung von Gubaidulinas Werk fiel der Karsamstag 1982 und, elf Jahre später, 1993 auf den 10. April.
Dem wahrscheinlichsten Jahr des Konzerts kann man sich zudem über einen Blick auf das interpretierende Personal nähern. Das Berliner Philharmonia Quartett mit Philip Langridge spielen das In Memoriam von Strawinsky. Da sich dieses Quartett erst 1985 gegründet hat, scheidet das Jahr 1982 hier für das Konzert aus und 1993 erscheint wahrscheinlicher. Descensio wird von einem nicht näher betitelten Ensemble interpretiert und das Philharmonische Bläsersextett Berlin spielt die Janáček-Suite. Dem Geschlechterverhältnis der gespielten Komponisten von 1 zu 3 steht ein noch unausgewogeneres Verhältnis auf der Interpret:innen-Ebene von 2 zu 17 gegenüber. Eine besonders interessante und prominente Persönlichkeit ist hier Majella Stockhausen, Tochter des Komponisten Karlheinz Stockhausen, die in diesem Werk Celesta und Klavier spielt. Auch in Bartóks Sonate übernimmt sie einen der beiden Klavierparts. Grundsätzlich tauchen viele Musiker:innen hier in mehreren Werken auf. Die Posaunisten Hermann Bäumer, Christhard Gössling und Olaf Ott spielen sowohl bei Descensio als auch im Werk von Strawinsky mit. Auch Markus Becker übernimmt wie Stockhausen bei Gubaidulina und Bartók die Tasteninstrumente.
Wäre nur noch die Frage nach dem Ort des Konzerts zu klären. Da die meisten Ensembles und Musiker:innen aus Berlin kamen bzw. dort tätig waren, erscheint ein Aufführungsort in der Hauptstadt naheliegend. Mit Sicherheit lässt sich dies jedoch nicht sagen. Alles in allem stecken in diesem unscheinbaren Handzettel allerhand interessante Informationen, die nur durch diesen zugänglich sind und ohne ihn verloren wären.
Text: Milan Schomber (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn und Referent bei der Tagung „(Wahl-)Verwandtschaften: Gemeinschaftliches kulturelles Handeln“ am Forschungszentrum Musik und Gender)
Zuletzt bearbeitet: 10.06.2022
Zum Seitenanfang