März 2022

Auf den Spuren eines Konzertprogramms von Amalie Joachim

Brief von Amalie Joachim an einen unbekannten Adressaten. Berlin, 11.05.1884. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.5 © Archiv fmg


Im Fokus eines Quellenseminars im Wintersemester 2021/22 standen musikalische Akteurinnen rund um Clara Schumann. Darunter befand sich auch die österreichisch-deutsche Altistin Amalie Joachim (1839‒1899), eine der bedeutendsten Lied- und Oratoriensängerinnen ihrer Zeit, welche außerdem noch  als Gesangspädagogin und Herausgeberin wirkte. Im Forschungszentrum Musik und Gender befinden sich zurzeit acht Korrespondenzquellen, die von Amalie Joachim verfasst wurden. Die datierten Briefe und Postkarten stammen allesamt aus dem Zeitraum von 1863 bis 1892. Im Zentrum dieser Quelle des Monats steht ein Brief, den sie am 11.05.1884 aus Berlin an einen unbekannten Adressaten sandte:


"Hochgeehrter Herr Justizrath!

Wenn es möglich wäre, mir einen anderen Platz am 3ten Tag zu gewähren, wäre ich herzlich dankbar! - Es ist so sehr fatal - bis zu Ende des Concertes mit den Liedern warten zu müßen. Man leidet von der Hitze zu arg – u. ist für feine Lieder dann meist heiser u. abgespannt. Es ist wirklich leichter eine Arie zu singen! Vielleicht geben Sie die 11te Nummer - es ist ja eigentlich der „Ehrenplatz“ im Programm Herrn Riese? u. Nro. 8? Ich wäre sehr dankbar! -
Da mein Concert ja nicht sehr voll war, am Fest auch ein gewiß andres Publikum sein wird[,] so glaube ich die Lieder v. Brahms wiederholen zu können, die ich im März dort sang:
a. Feldeinsamkeit
b. der Kranz
c. Vergebliches Ständchen
Brahms.

Bitte um Notitz auf einer Postkarte, wenn Sie die Lieder annehmen; ich schicke dann die Texte. +

Hochachtungsvoll
Ihre ergebene
Amalie Joachim

11.05.84

+ oder schlage event: andre vor! Die Auswahl ist ja groß!!"

Brief von Amalie Joachim an einen unbekannten Adressaten. Berlin, 11.05.1884. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.5 © Archiv fmg


Der dreiseitige Brief ist in seiner Form mit der rasch fließenden Handschrift und seinem professionell orientierten Inhalt exemplarisch für den im Forschungszentrum Musik und Gender vorliegenden Schriftverkehr Amalie Joachims. So geben die Briefe wenig Persönliches preis und sind stattdessen überwiegend geschäftlicher Natur und haben Terminabsprachen oder proben- bzw. auftrittsspezifische Aspekte als Sujet.

Auch die Anrede „Hochgeehrter Herr“, sowie die gewählte Grußformel am Ende des Briefes „Hochachtungsvoll Ihre ergebene Amalie Joachim“ sind beispielhaft für den Schriftverkehr der Sängerin und lassen sich in ähnlicher Weise in allen der im Forschungszentrum liegenden Briefe wiederfinden. Trotz ihrer gewählten Ausdrucksweise hat die Sängerin keine Scheu, ihr Anliegen klar zum Ausdruck zu bringen und die Bitte um Änderung ihrer Position im Konzertprogramm zu äußern. Gleichzeitig zeigt die Anmerkung in der letzten Zeile ihres Briefes eine Kompromissbereitschaf, indem sie nach ihrer Liedauswahl hinzufügt, dass diese nach Wunsch geändert werden könne.

Durch die Datierung auf den 11. Mai 1884 lässt sich der Brief in die Lebensphase Amalie Joachims nach ihrer Scheidung von Joseph Joachim im selben Jahr einordnen. Nachdem ihr öffentliches Ansehen durch die Scheidung stark beschädigt worden war und sie kaum noch Engagements fand, konnte sie sich ab 1884 wieder als eigenständige Interpretin etablieren. Durch Konzertreisen und regelmäßige, auch internationale Auftritte verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt.

Im vorliegenden Brief macht Amalie Joachim unter anderem Vorschläge für das Programm eines kommenden Konzertes und schlägt die Lieder „Feldeinsamkeit“, „Der Kranz“ und „Vergebliches Ständchen“ von Johannes Brahms (1833–1897) vor.

Vorgeschlagene Lieder von Johannes Brahms im Brief von Amalie Joachim an einen unbekannten Adressaten. Berlin, 11.05.84. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.5 © Archiv fmg


Dieser selbstbestimmte Schritt ist bezeichnend für die musikalische Aufführungskultur im 19. Jahrhundert, in welchem die Sängerinnen und Sänger oftmals ihre Liedauswahl auf sich zuschneiden konnten (vgl. Beatrix Borchard: Amalie Joachim und die gesungene Geschichte des deutschen Liedes, S. 272-277). Als Grundlage für die Auswahl sollen die stimmlichen und darstellerischen Möglichkeiten gegolten haben. Ein weiteres Kriterium war das Erzeugen musikalischer Kontraste. Dies spiegelt sich auch in Amalie Joachims Liedauswahl. Während „Feldeinsamkeit“ mit „Langsam“ untertitelt ist, findet sich für „Der Kranz“ in den Noten die Tempo  und Charakterbezeichnung „Allegro grazioso, lebhaft“ und das „Vergebliche Ständchen“ soll „lebhaft und gut gelaunt“ gespielt werden. So beabsichtigte Amalie Kontraste durch die Auswahl unterschiedlicher musikalischer Stimmungen zu erzeugen.

Ob sie die Lieder dann tatsächlich so wie im Brief gelistet gesungen hat, ist schwer nachzuweisen. Zu ihrer Zeit war es üblich, dass vokale Beiträge erst kurz vor dem Konzert festgelegt wurden. Hinzu kamen häufig auch Abweichungen vom schriftlichen Programm. Nichtsdestotrotz kann die Auswahl der Stücke als wichtige Quelle dienen und Aufschluss über das Repertoire der Sängerin geben.

Darüber hinaus zeichnet sich in diesem Brief auch die Rolle Amalie Joachims für das Liedschaffen Johannes Brahms' ab. Die drei von ihr gewählten Lieder sind nicht zufällig von diesem Komponisten – seine Werke haben einen festen Platz in Amalies Repertoire. Es ist bekannt, dass die Sängerin insgesamt 139 verschiedene Brahmslieder aufgeführt hat; das im obigen Brief erwähnte Lied „Feldeinsamkeit“ nach bisherigem Wissen sogar am häufigsten (vgl. Beatrix Borchard: Amalie Joachim und die gesungene Geschichte des deutschen Liedes, S. 278). Damit hatte die Altistin eine wichtige Rolle für das Liedschaffen Brahms und die Verbreitung seiner Lieder. Sie hat damit eine Vermittlungsfunktion zwischen Konzertsaal und privater Sphäre. An dieser Stelle sollte kurz angemerkt werden, dass Amalie Joachim trotz ihrer in musikalischer Hinsicht großen Bedeutung für Brahms in der Literatur zu demselben kaum Erwähnung findet.

Die Quellen zu Amalie Joachim zeichnen jedoch das Bild einer selbstständigen und engagierten Sängerin sowie Pädagogin, die eine bedeutende Rolle für den Konzertgesang im 19. Jahrhundert spielte, gerade auch als eigenständigem Berufsweg für Frauen.

Text: Sophie Heyer (Studentin im Bachelorstudiengang Künstlerisch-Pädagogische Ausbildung und Teilnehmerin des Seminars "Musikhistoriographie zwischen Archiv und Online-Enzyklopädie. Auf den Spuren musikkultureller Akteur*innen um Clara Schumann" im Wintersemester 2021/2022)

 
Porträt von Amalie Joachim nach einer Fotografie mit Faksimile ihrer Unterschrift. Stich und Druck: Weger, Leipzig (Verlag der Dürr'schen Buchh.), [um 1860]. Signatur: Rara/FMG Joachim,A.8/1 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 01.04.2022

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