Mai 2022

„Why should I not have learned the violin?“ – Camilla Urso, 1893 Ein Plädoyer für professionelle Geigerinnen

 

„So many times have I been asked why I learn the violin, that to cut matters short I would answer the question by another: Why should I not have learned the violin?“

Mit diesen Worten eröffnete Camilla Urso (1842–1902) ihren Vortrag „Women and the Violin. Women as Performers in the Orchestra“, gehalten 1893 beim Women’s Musical Congress in Chicago. Eine Rede, in der sich die Geigerin öffentlich und kritisch mit den Möglichkeiten von Frauen und deren Professionalisierung des Instrumentalspiels auseinandersetzte. Das Autograph des Vortrags, mitsamt Ursos eigenen Korrekturen und Anmerkungen, befindet sich im Bestand des Forschungszentrums für Musik und Gender Hannover. Die handschriftliche Quelle aus dem 19. Jahrhundert wird im Archivbestand ergänzt durch eine weitere, fast hundert Jahre jüngere Quelle: Die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Susan Kagan veröffentlichte 1977 eine Abschrift von Ursos Vortrag, zusammen mit einem Kommentar zu demselben und Informationen zu der Verfasserin. Unter dem Titel „Camilla Urso. A Nineteenth-Century Violinist’s View“ wurde der Artikel im heute noch bestehenden Signs. Journal of Women in Culture and Society (signsjournal.org) herausgebracht. Neben den inhaltlichen Erkenntnissen verdeutlicht dieses Material, wie mit der Zeit auch Rezensionen von Quellen selbst zu Quellen werden und den Archiv- und Wissensbestand erweitern können.

„Why leave all this talent goes for nothing and not utilize it in the orchestras?“

1842 in Nantes geboren zogen Camilla Urso und ihre Familie nach Paris, um der als Wunderkind präsentierten jungen Geigerin eine Ausbildung am Pariser Konservatorium zu ermöglichen. Als Siebenjährige wurde sie dort, entgegen des offiziellen Mindestalters von zehn Jahren, aufgenommen und schloss ihr Studium 1852 ab. Im Anschluss unternahm Urso eine Konzertreise in die USA, mit zahlreichen erfolgreichen Auftritten, darunter 18 gemeinsam mit der Sängerin Henriette Sontag (zu Sontag siehe Quelle des Monats Mai 2020) und gefolgt von einem Umzug nach Tennessee. Nach einem zwischenzeitlichen Rückzug aus dem Konzertleben von 1855 bis 1863, der mit dem Herauswachsen aus der Rolle des Wunderkindes in Verbindung gesetzt werden kann, etablierte sich Urso als erstklassige Geigerin, nicht nur mit Konzerten und Tourneen in den USA, sondern auch in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika sowie in Europa, wohin sie ab 1865 wiederholt über längere Zeiträume zurückkehrte und zahlreiche Sommer in Frankreich verbrachte.
Musikalisch begleitet wurde Urso unter anderem von ihrem selbstgegründeten Ensemble Camilla Urso Concert Company, sodass auch Auftritte in Städten ohne eigenes Orchester möglich waren. Neben ihrer Solistinnentätigkeit organisierte sie großangelegte Musikfestivals und unterstützte aufkommende Frauenorchester wie das Women’s String Orchestra (zu Damenorchestern siehe Quelle des Monats Juli 2019). Sie war in späteren Jahren im Bereich der Kammermusik und, insbesondere nach ihrem Rückzug aus dem aktiven Konzertleben, bis zu ihrem Tod 1902 als Lehrerin und Pädagogin tätig. Als professionelle Geigerin wurde sie in den USA von der Öffentlichkeit als Neuheit wahrgenommen und ihr Erfolg sorgte für vermehrte Geigenstudentinnen an Bostoner und New Yorker Konservatorien. Hervorzuheben ist, dass sie sich öffentlich zu dem Berufsfeld der Geigerin äußerte. Ihre Pionierrolle und ihre öffentliche Meinungsäußerung bieten die Grundlage für die Erinnerung an sie und die Rezension von Susan Kagan.

Susan Kagan „Camilla Urso. A Nineteenth-Century Violinist’s View“, [1977] Signatur: Rara/FMG Urso,C.1/2 © Archiv fmg

 

Kagan skizziert Ursos Biographie, nimmt Bezug auf die Inhalte ihrer Rede und verwendet ergänzend Ausschnitte aus weiteren Quellen von und über Urso (darunter beispielsweise eine Kritik aus dem Dwight’s Journal of Music von 1863: „In purity, finish, delicate taste and feeling, and a certain spiritual beauty of tone, we are not sure we ever heard her [Urso] execution surpassed.“) Kagan arbeitet heraus, dass Ursos Erfolg nicht nur durch ihr Können, sondern insbesondere dadurch bedingt war, dass sie als Geigerin, und damit als neue Erscheinung auf den Konzertbühnen, den Wünschen des Konzertpublikums entsprach. Auch in Orchesterkreisen hatte Urso Rückhalt und wurde als professionelle Geigerin anerkannt. Dies zeigt sich laut Kagan in: „a testimonial signed by over sixty prominent Boston musicians and published in the Boston daily Newspaper 1867“ sowie in der ihr 1869 zuteilgewordenen Ehrenmitgliedschaft in der rein männlichen Philadelphia Philharmonic Society. Mit ihrem vielseitigen Schaffen und musikalischen Können ging sie in den USA neue Wege als Geigerin in der Öffentlichkeit –
ein Handlungsfeld, das sich Frauen im 19. Jahrhundert in Europa ebenfalls erschlossen.

„[...] the violin is perfectly within the ability of women […]“

Camilla Urso plädiert in ihrer Rede für die Geige als Instrument für Frauen und die Professionalisierung von Geigerinnen. Eingangs nennt sie hierbei Geige spielende Frauen der Vergangenheit, wie Queen Victoria und Caterina de Medici, und die vielseitige Musikerin, Geigerin und Komponistin Maddalena Lombardini Sirmen, sowie die Geigerin Regina Strinasacchi, mit der W. A. Mozart gemeinsam auftrat und in deren Auftrag er die Sonate in B-Dur (KV 454) komponierte. Als Argumente für die Eignung der Geige für Frauen nennt Urso das ansehnliche und liebreizende Aussehen des Instrumentes, ihre handliche Größe sowie ihre Melodiösität. In schwelgenden Worten beschreibt sie die Geige als treue Freundin: „[O]ne gets so attached to it, that any slight accident, a crack, a jar, makes one feel grieved as if a dear companion gets injured“. Weitere Abschnitte lesen sich ebenso wie eine Liebeserklärung an die Geige: „[…] we lay them down carefully wrapped up in the softest of silks in a bed lined with the choicest velvet; we are so jealous of them that we permit no other mortal hands to touch them“. Dieses Zitat stammt aus einem von Urso beschriebenen Gespräch zwischen einer Pianistin und einem Geiger, in dem die Pianistin betont, sie könne ebensolche Töne aus ihrem Klavier hervorbringen und ebenso Saiten zerspringen lassen wie klavierspielende Männer. Dieses nach Gleichberechtigung strebende Statement wird durch die soeben zitierten Worte des Geigers über sein Instrument abgelöst. Kagan ordnet diesen Ausschnitt dahingehend ein, dass es Urso primär um das gespielte Instrument und weniger um das Geschlecht gehe. Aus der Passage ließe sich insgesamt aber auch schließen, dass nach Urso sowohl alle Menschen alle Instrumente spielen und perfektionieren könnten als auch, dass gerade die historisch vorherrschende Ablehnung der Geige in Frauenhänden, weder in Bezug auf das Können noch hinsichtlich der ebenfalls thematisierten Haltung und Kleidung beim Spielen auf nachvollziehbaren Grundlagen fuße.
Insbesondere die Möglichkeit die Familie finanziell durch professionelles Geigespielen, und vor allem durch feste Anstellungen in Orchestern, zu unterstützen, hebt Urso als Chance hervor und kritisiert, dass durch den Ausschluss von Frauen zahlreiche Talente verborgen und sowohl künstlerisch als auch finanziell ungenutzt blieben. Kagan betont in ihrer Zusammenfassung von Ursos Forderungen besonders die Aktualität des Wunsches nach gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit, unabhängig vom Geschlecht – eine Forderung, die auch heute noch nicht an Relevanz verloren hat.

Camilla Urso „Women and the Violin. Women as Performers in the Orchestra“, Chicago [1893] Signatur: Rara/FMG Urso,C.1/1 © Archiv fmg

 

Im Anschluss an Ursos provokantes Statement, „[w]omen as a rule play in better tune than men“, betont sie die Zuverlässigkeit und ihre eigenen guten Erfahrungen mit Geigerinnen in Orchestern und nutzt abschließend eine Argumentationsstrategie, mit der sie aufruft, dass von Kritikern sicherlich gesagt werde, Frauen würden im Haushalt gebraucht. Doch, so erwidert sie, „in most orchestras the place of harpist [sic.] is supplied by women. This admitted, why should not ladies be employed in the same orchestras??“

Text: Leonie F. Koch (Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungszentrum Musik und Gender)

 
Porträt der Geigerin Camilla Urso, commons.wikimedia.org/wiki/File:Camilla_Urso.png
Unterschrift von Camilla Urso, Signatur: Rara/FMG Urso,C.1/1 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 04.10.2022

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