September 2022

Regelmäßig werden in der Rubrik „Quelle des Monats“ Raritäten aus dem Bestand des fmg vorgestellt. Die Exponate konnten dank der Finanzierung durch die Mariann Steegmann Stiftung erworben werden und ergänzen den vielfältigen und einzigartigen Archivbestand des Forschungszentrums. Ausstellungsstücke und Exponatbeschreibungen der vergangenen Monate können links im Menü eingesehen werden.

Nachrufe – eine Quellengattung besonderer Art

Im Rahmen des Seminars „Das letzte Wort? (Akademische) Nachrufe im Kontext von Musik- und Fachgeschichte“ im Sommersemester 2022 wurde der Fokus auf die spannende Quellengattung „Nachrufe“ gelenkt, die gerade in der Musikwissenschaft noch kaum erforscht ist und zu der es aus musikwissenschaftlicher Perspektive noch keine umfassenderen Untersuchungen gibt. Im Archivbestand des Forschungszentrums Musik und Gender befinden sich derzeit 14 Nachrufe von Frauen unterschiedlicher Länge. Einer davon ist der Nachruf der Komponistin und Pianistin Amy Beach, der hier, ziemlich genau zum 155. Geburtstag der Komponistin, als Quelle des Monats vorgestellt und kontextualisiert werden soll.

Zusammenstellung aus Quellen zu Amy Beach. Signatur: Rara/FMG Beach,H.1/2, Rara/FMG Beach,H.1/9, Rara/FMG Beach,H.1/14 © Archiv fmg.

 

Die wichtigste Frage bei der Quellenform „Nachruf“ ist: Was sind Nachrufe eigentlich? Da eine Definition schwierig ist, hat der Literaturwissenschaftler Ralf Bogner drei Kategorien aufgestellt, an denen die Abgrenzung der Gattung „Nachrufe“ gelingt: Erstens ist ein Nachruf eine todesanlassbedingte Publikationsform. Zweitens hat ein Nachruf immer einen Öffentlichkeitsbezug. Ein in einem Tagebuch geäußerter Satz über den Tod eines Menschen ist in diesem Sinne kein Nachruf, da er nicht in der Öffentlichkeit geäußert wurde. Drittens folgt ein Nachruf in der Regel bestimmten Textherstellungsstrategien und beinhaltet bestimmte Wirkungsfunktionen, die mittels unterschiedlicher rhetorischer Kategorien, wie etwa einer Totenklage, einem Totenlob oder dem Trost der Hinterbliebenen, erreicht werden sollen. Der Nachruf von Amy Beach entspricht allen drei Kategorien Bogners: Mit der Veröffentlichung in einer öffentlichen Zeitschrift am 1. Februar 1945, also einen reichlichen Monat nach ihrem Tod am 27. Dezember 1944, ist sowohl der Todesanlass als auch der Öffentlichkeitsbezug gegeben. Die dritte Kategorie ist schon im ersten Satz durch die Bezeichnung Amy Beachs als „one of the outstanding composers of America“ gegeben, da diese Phrase für das Totenlob stehen kann.

Um die Person Amy Beach auch außerhalb ihrer Darstellung in dem 1945 erschienenen Nachruf kennenzulernen, soll hier ein Überblick über ihr Leben gegeben werden, wie er sich in der Sekundärliteratur findet. Die folgende Darstellung stützt sich auf den Artikel von Adrienne Fried Block: „Amy Marcy (Cheney) Beach (1867-1944): ‚Es war unvermeidlich, dass Musik zum Inhalt meines Lebenswerkes würde …'“ aus Annäherung XI – an sieben Komponistinnen, hrsg. von Clara Mayer.

Amy Beach, o.D., o.O., Signatur: Rara/FMG Beach,H.1/3 © Archiv fmg.

 

Amy Marcy Cheney wurde am 5. September 1867 in West Henniker/New Hampshire, USA geboren. Ihr Vater Charles Abbott Cheney war ein Papierfabrikant und Importeur, ihre Mutter Clara Imogene Cheney eine talentierte Pianistin und Sängerin, die dies jedoch nicht als Beruf ausübte. Die Tochter war schon im frühesten Kindesalter mit Musik umgeben und fertigte bereits mit vier Jahren erste eigene Klavierstücke an. Eine „typische Wunderkindlaufbahn“ ablehnend, begrenzte ihre Mutter die Zeit, die sie am Klavier verbringen durfte. Mit 4 Jahren erhielt Amy Cheney ihren ersten Klavierunterricht bei ihrer Mutter. Später, als Ersatz für eine musikalische Ausbildung in Europa, die ihre Eltern ihr nicht erlaubten, erhielt sie Unterricht bei dem in Deutschland ausgebildeten Ernst Perabo und bei dem Liszt-Schüler Carl Bärmann. Letzterer bereitete sie auf ihr Konzertdebüt am 24. Oktober 1883 in Boston vor, das ein begeistertes Echo in der Presse hervorrief. Zwei Jahre später heiratete die mittlerweile 18-jährige Amy Cheney den 25 Jahre älteren Mediziner Henry Harris Aubrey Beach, auf dessen Anraten sie sich ab dem Zeitpunkt Mrs. H. H. A. Beach nannte. Genau wie ihre Mutter war auch ihr Ehemann gegen eine Laufbahn als professionelle Konzertpianistin. Stattdessen drängte er sie dazu, sich auf das Komponieren zu konzentrieren. Schon ein Jahr nach ihrer Hochzeit wurde ihr erstes größeres Werk, die Messe Es-Dur für Soloquartett, Chor, Orgel und Orchester op. 5 von der Handel and Haydn Singers Society uraufgeführt und von der „vollzählig anwesenden“ Presse begeistert aufgenommen. Von diesem Zeitpunkt an stieg ihre Berühmtheit in Amerika kontinuierlich an. Sie komponierte Sinfonien, Lieder (die besonders populär wurden), Werke für Klavier mit und ohne Orchester, wie zum Beispiel das Konzert für Klavier und Orchester op. 45, Kammermusik, sowie geistliche und weltliche Chorwerke (eine ausführliche Auflistung der Werke von Amy Beach findet sich hier). Im Herbst 1911, ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes, reiste Amy Beach, wie sie sich nun als Witwe offiziell nannte, gemeinsam mit ihrer Freundin, der Primadonna Marcella Kraft, nach Europa, wo ihre Anerkennung durch die Aufführung ihrer eigenen Werke nun auch wuchs. In den USA begleitete die Musikpresse ihren Europaaufenthalt mit Artikeln und Erwähnungen und so wuchs ihr Ruhm auch in ihrer Abwesenheit immer weiter, sodass sie 1914 mit Triumph zurückkehrte. An ihre Tournee in Europa schloss sich nun ein Leben als reisende Komponistin und Pianistin an. Ab 1921 verbrachte sie die Sommermonate in einer Künstlerkolonie in New Hampshire, um Werke zu komponieren, die sie in den Wintern dazwischen auf den Konzertbühnen zur Aufführung brachte. In ihren letzten Schaffensjahren komponierte sie, unter anderem durch Kompositionsaufträge durch die St. Bartholomews Episcopal Church, überwiegend geistliche Musik. Bis zu ihrem Tod am 27. Dezember 1944 in New York blieb sie die bedeutendste Komponistin Amerikas. Nach ihrem Tod verschwanden ihre Werke jedoch aus den Konzerthäusern.

Zeitungsbericht zum Tod von Mrs. H.H.A. Beach, The Diapason, 01.02.1945, Signatur: Rara/FMG Beach,H.1/12 © Archiv fmg.

 

Bei dem Nachruf zu Amy Beach gibt es nun in Hinblick auf die spezifische Darstellung ihrer Person einige spannende Dinge zu bemerken. Erstens wird mit dem Titel „Mrs. H. H. A. Beach dies; passing of composer“ der Name gebraucht, den sie selbst schon seit 1910 nicht mehr verwendete. Jedoch war sie unter diesem Namen wahrscheinlich besser als Komponistin bekannt, als unter dem Namen „Amy Beach“, den sie seit dem Tod ihres Mannes verwendete und unter dem sie auch heute in der Sekundärliteratur geführt wird.

Der Untertitel des Nachrufs „Last work is for organ” erscheint auf den ersten Blick recht willkürlich, gerade in Hinblick auf die oben bereits angesprochene, so viele Gattungen umfassende Werkliste. Da der Nachruf in der heute noch existierenden Orgelzeitschrift „The Diapason“ erschienen ist, ist das leicht zu erklären. Im Artikel selbst wird auch auf ihre zahlreichen Freunde aus diesem Bereich hingewiesen: „Although not an organist, she was devoted to the organ and among her friends numbered many of the country’s prominent organists and hymnologists.“

Nach einer sehr umfangreichen Aufzählung ihrer Werke nimmt die Darstellung von Amy Beachs Biographie in dem Nachruf erstaunlicherweise einen vergleichsweise kleinen Teil ein. Die Ergebnisse einer ersten Untersuchung, die im oben genannten Seminar entstanden ist, lassen vermuten, dass eine Gewichtung weg von der Konzentration auf die Person hin zu einer Hervorhebung ihrer künstlerischen Arbeit für einen Nachruf einer Frau gerade für die Zeit ungewöhnlich war. In der Studie wurden insgesamt 35 Nachrufe von Musiker*innen aus fünf Ausgaben der Neuen Zeitschrift für Musik im Zeitraum von 1923 bis 1942 auf eine geschlechterspezifische Darstellung hin untersucht. Dabei standen die Unterschiede hinsichtlich der Geschlechterverteilung, der Berufe und der Begrifflichkeiten im Fokus. Die untersuchten Begrifflichkeiten in den Nachrufen weisen darauf hin, dass in den Nachrufen, die für Männer verfasst wurden, deutlich mehr auf deren berufliche Erfolge und ihr Talent eingegangen wurde als das bei den Frauen der Fall war. Nur in der Hälfte der Nachrufe für Frauen wurde deren berufliche Tätigkeit überhaupt erwähnt. In Amy Beachs Nachruf liegt der Schwerpunkt sehr auf ihrem beruflichen Schaffen und ihr biografischer Werdegang wird nur in einem kurzen Absatz, der ihren Herkunftsort, ihr Debüt und ihre Auftritte mit namhaften Orchestern, sowie ihre Hochzeit zum Inhalt hat, behandelt.

Poster im Rahmen des Seminars "Das letzte Wort? (Akademische) Nachrufe im Kontext von Musik- und Fachgeschichte" SoSe 2022, HMTMH, erstellt von Hannah Keller.

 

Nachrufe heben verschiedene Aspekte eines einzelnen Lebens hervor und können uns so Auskunft über das Leben, das Wirken und auch das Ansehen einer Person in einem bestimmten Wirkungskreis geben. Sie geben manchmal Rätsel auf und können schwer zu finden sein, aber es lohnt sich immer nach ihnen zu suchen.

Nachrufe sind spannende Quellen, da an ihnen nicht nur die bloße Information abzulesen ist, dass eine Person verstorben ist, sondern auch noch viele zusätzliche Fragen gestellt werden können. Wie ein Nachruf das kollektive Erinnertwerden einer Person in der Gesellschaft beeinflusst oder für wen überhaupt ein Nachruf verfasst wird und für wen nicht, sind nur zwei der vielen Fragen, die im Seminar aufgekommen sind. Viele Nachrufe bieten darüber hinaus weitere spannende Anknüpfungspunkte für weitere Nachforschungen. Bei dem Nachruf von Amy Beach könnte dies die Untersuchung des Abschnitts am Ende des Nachrufs sein, der ihren Kompositionen sowohl typisch „männliche“ als auch typisch „weibliche“ Züge zuschreibt. Gerade unter Gender-Perspektive ist es spannend, dieses Narrativ weiter zu untersuchen.

 

Literaturhinweise:

Bogner, Ralf, „Der Nachruf als literarische Gattung. Möglichkeiten und Grenzen einer Definition.“, in: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999, hrsg. von Franz Simmler, Peter Lang, 2002.

Adrienne Fried Block: Amy Marcy (Cheney) Beach (1867-1944): „Es war unvermeidlich, dass Musik zum Inhalt meines Lebenswerkes würde …“, in: Annäherung XI – an sieben Komponistinnen, hrsg. von Clara Mayer.

 

Text: Dorothea Gertler (Studentin im Masterstudiengang Musikwissenschaft und Musikvermittlung und Teilnehmerin des Seminars „Das letzte Wort? (Akademische) Nachrufe im Kontext von Musik- und Fachgeschichte“, geleitet von Dr. Maren Bagge im Sommersemester 2022)

 
Amy Beach (1867-1944), o.D., o.O., Signatur: Rara/FMG Beach,H.1/4 © Archiv fmg.

Zuletzt bearbeitet: 28.09.2022

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