März 2023

From Spring to Summer, musikwissenschaftliche Ferienkurse 1949 und heute

Mit Blick auf die Spring School, welche vom 29.03–02.04.2023 am fmg stattfinden wird, ist auch die aktuelle Quelle des Monats das Zeugnis eines „Ferienprogramms“, geleitet und unterrichtet von Nadia Boulanger, einer der wichtigsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts.
Bevor das Thema der diesjährigen Spring School jedoch genauer erläutert wird, zunächst ein Blick auf die Quelle und ihre Unterzeichnerin.

Es handelt sich bei der Quelle um ein Certificate of Attendance der Summer School der Écoles d’art Américanes, ausgestellt an Elton V. Young im Jahr 1949, unterzeichnet von der Direktorin der Schule, Nadia Boulanger. Da das Zeugnis selbst aus rechtlichen Gründen nicht abgebildet werden kann, ist auf dem Bild dieses Artikels stellvertretend der Briefkopf der Schule zu sehen, welchen Boulanger selbst auch für Korrespondenzen nutzte, die im Archiv des fmg vorliegen. Während über den hier adressierten Schüler Elton V. Young, der die Klavierklasse der Summer School erfolgreich absolvierte, leider keine weiteren Informationen zu finden sind, bietet die Quelle eine spannende Grundlage, um einen genaueren Blick auf die Unterzeichnerin und die Rolle der Écoles d’art Américanes in deren musikpädagogischen Arbeit zu werfen.

Nadia Boulanger und die Écoles d’art Américanes

Nadia Boulanger (geb. Nadia Juliette Boulanger) wurde am 16. September 1887 in Paris geboren und wurde im Laufe ihres Lebens als Komponistin, Dirigentin und Organistin, vor allem aber als Pädagogin bekannt. Selbst musikalisch hochbegabt begann Sie mit 10 Jahren ihre Ausbildung am Pariser Conservatoire und fing mit 17 Jahren an selbst Unterricht zu geben. Als Komponistin nahm sie zweimal am Prix de Rome teil, welchen sie 1908 als Zweitplatzierte mit der Kantate La Sirene gewann. Ab 1919 trat sie nicht weiter als Komponistin in Erscheinung, da sie ihre eigene Musik laut eigenen Aussagen als „unnütz“ empfand und widmete sich vermehrt der Pädagogik. Als Dirigentin legte sie ihren Fokus auf Alte Musik, unterstütze jedoch auch zeitgenössische Künstler:innen, darunter ihre Schwester Lili Boulanger sowie Igor Strawinsky.
Ihre musikpädagogische Karriere begann Boulanger nach ihrem Erfolg beim Prix de Rome als Assistentin des Komponisten und Organisten Henri Dallier am Conservatoire de Paris. In den Folgejahre lehrte sie außerdem an der École Normal de Musique (ab 1920), dem Conservatoire Femina Musica, der Royal Academy of music sowie der Yehudi Menuhin School, dessen Gründer selbst bereits Schüler an der Écoles d’art Américanes war. Darüber hinaus unterrichtete Nadia Boulanger über 40 Jahre immer mittwochs in ihrer Wohnung in der Rue Ballu. Ihren Schüler:innen die sich selbst im Verbund die „Boulangerie“ nannten, gab sie dort Kurse in Satztechnik und musikalischer Analyse.

Die Écoles d’art Américanes begleitete Nadia Boulanger seit ihrer Gründung 1921 und übernahm ab 1947 als erste Frau ihre Direktion.
Gegründet wurde die Summer School bereits während des ersten Weltkrieges als Versuch, die US-amerikanische Militärmusik zu verbessern. So bat der US-General John J. Pershing den Dirigenten der New York Philharmonic, zu dieser Zeit Walter Damrosch, eine Musikschule zu errichten. Diese wurde zunächst in Charmont, der Basis der US-Truppen, gegründet und von dem französischen Komponisten Francis Casadesus geleitet.

Nach dem Krieg sollte die Schule weitergeführt werden und in Kooperation mit der französischen Regierung als „expansion of french art“ für US-amerikanische Studierende in Frankreich dienen. 1921 zog sie unter der Leitung von Charles-Marie Widors in den Flügel Louis XV. des Chateau Fontainebleau, wo sie sich bis heute befindet.
Als Replika der französischen Konservatorien wurden hier zwischen 1921 und 1993 über 1500 Studierende in Sommerkursen unterrichtet. Angeboten wurden zunächst musikalische Vertiefungskurse für Streicher, Piano und Komposition sowie Kammermusik. Ein weiterer Schwerpunkt lag und liegt auf den musiktheoretischen Kursen wie Harmonielehre und Kontrapunkt. Zwei Jahre nach der Eröffnung schloss sich die Ecole des Beaux-Arts an und vereinte so Musik und Architektur. Allgemein sollte die Institution gemeinsam mit der École Normale de musique einen Gegenpol zu den deutschen Konservatorien bilden.

 

Briefkopf, RARA/FMG Boulanger,N.8./12 © Archiv fmg

 

Für Nadia Boulanger stellte die Écoles d’art Américanes eine wichtige Institution für ihre Reputation als Musikpädagogin dar. Gleichzeitig war sie selbst durch eigene Kontakte in die USA für die Schule von Bedeutung. Die pädagogische Beschäftigung Boulangers baute zeitlebens auf verschiedenen Pfeilern auf und konnte so als besonders individuell und ungebunden beschrieben werden. So lehrte sie während des Schuljahres an der École Normale de musique und in den Sommermonaten an der Écoles d’art Américanes. Beide Lehrtätigkeiten verband ihre eigene Boulangerie in der Rue Ballu. Diese Vielfalt der Institutionen führte zu einer innovativen Lehre der Nadia Boulanger, da sie weder institutionell, noch geographisch oder intellektuell gebunden war. Auch ihre Schülerschaft zeichnete sich durch ihre Internationalität aus und so war Boulanger bekannt für ihren unkonventionellen Unterricht, der die künstlerische Freiheit ihrer Schüler:innen unterstütze, jedoch gleichzeitig Wert auf eine einwandfreie Beherrschung der Grundlagen der Harmonik, Orchestration und des Kontrapunktes legte.

An der Écoles d’art Américanes lehrte Nadia Boulanger ab 1930 bis zu 6 Klassen in den Fächern Musikgeschichte, Allgemeine Pädagogik (ab 1932), Komposition (ab 1937) und Musikwissenschaft. Außerdem begann sie ein neues Fach unter dem Titel „Keyboard Harmony“, das den Schüler:innen „working out of figured basses and the harmonization of melodies at the piano, transposition, and the reduction at sight of orchestral scores“ (Fontainebleau School of Music,” promotional brochure, 1932, 24, ACA) näherbringen sollte.
Zwischen den Weltkriegen unterrichtete Boulanger so laut Aufzeichnungen der Schule rund 195 Schüler:innen und verband hier ihre diversen Kenntnisse mit den internationalen Hintergründen der Teilnehmer:innen der Summer School. So erhielt sie durch die Anstellung an der Écoles d’art Américanes berufliche Sicherheit und den Raum, ihre Lehre individuell zu gestalten und übernahm selbst ab 1947, nachdem sie die Kriegsjahre in den USA verbracht und dort unterrichtet hatte, die Direktion der Schule, die sie bis zu ihrem Tod 1979 innehatte.

Nadia Boulangers überlieferte Methoden, die heute primär durch Aussagen ihrer Schüler:innen überliefert sind, hatten Einfluss sowohl auf die Pädagogik in Frankreich als auch auf die Entwicklung der US-amerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts, unter anderem durch ebendiese Schüler:innen, die auch über die Écoles d’art Américanes hinaus ihren Unterricht in Anspruch nahmen und das Wissen weiter trugen.

Spring School „Musik (digital) ausstellen | Quellen sichten, auswählen und beschreiben“

Die diesjährige Spring School am fmg beschäftigt sich in vier Tagen mit Konzepten des Ausstellens und Vermittelns von (musikhistorischem) Wissen. So sollen anhand ausgewählter Literatur theoretische Grundlagen zum Ausstellen von Musik bearbeitet und reflektiert werden. Ein Fokus liegt dabei auch auf Optionen des digitalen Ausstellens sowie der gendersensiblen Reflektion. Als Beispiel fungiert die Ausstellung „Whisky trifft auf Wohltätigkeit. Wissensräume um die Sängerin Jenny Lind“, die das fmg gemeinsam mit der niedersächsischen Landesbibliothek erarbeitet hat.

Die Ausstellung in der GWLB kann seit dem 16.02.23 im 1. OG der Bibliothek besichtigt werden. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

Text: Janica Dittmann (Studentische Hilfskraft am FMG und Studentin im Masterstudiengang Medien und Musik an der HMTMH)

Literatur

Brooks, J. (Ed.). (2020): Nadia boulanger and her world, University of Chicago Press. S. 85–117.

Capgras, Nicole (2016): Art. Boulanger, Nadia (Juliette) in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016ff., zuletzt abgerufen am 27. Februar 2023.

Fembio. Frauenbiographieforschung: Art. Nadia Boulanger, zuletzt abgerufen am 27. Februar 2023.

Fontainebleau Schools Of Music And Fine Arts/ Les Écoles D'Art Américaines De Fontainebleau: Art. History, zuletzt abgerufen am 28. Februar 2023.

Unseld, Melanie: Art. Nadia Boulanger, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 24. April 2018, zuletzt abgerufen am 27. Februar 2023.

 

 

 
Nadia Boulanger https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nadia_Boulanger_1910.jpg

Zuletzt bearbeitet: 28.07.2023

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