Mai 2023

„In der Hoffnung, dass mein Name Ihnen nicht unbekannt ist…“. Spurensuche um Vera Timanoffs Konzertaktivität nach 1900

Ausgangspunkt der Quelle des Monats Mai sind zwei undatierte Briefe der russischen Pianistin Vera Timanoff (1855–1942), deren zusammenhängende Betrachtung nahelegt, dass sie nur wenige Tage nacheinander verfasst wurden. Sowohl in ihrer Materialität als auch in ihrer formalen und inhaltlichen Beschaffenheit sind sie nahezu identisch.

Brief von Vera Timanoff, 25. März (jul.) bzw. 7. April (greg.), Rara/FMG Timanoff,V.3 © Archiv fmg
Brief von Vera Timanoff, 29. März (jul.) bzw. 11. April (greg.), Rara/FMG Timanoff,V.1 © Archiv fmg


Beide Briefe wurden auf einfachem dünnem und kariertem Papier mit schwarzer Tinte verfasst. Sie umfassen jeweils eine DIN A4 Seite Text. Die Schriftsprache ist deutsch. Die zugehörigen Briefumschläge sind nicht überliefert. In beiden Fällen ist „Petersburg“ als Absendeort und das Datum sowohl nach julianischem als auch gregorianischem Kalender angegeben. Der chronologisch erste Brief (Rara/FMG Timanoff,V.3) ist auf einen 25. März (jul.) bzw. 7. April (greg.) datiert, der zweite (Rara/FMG Timanoff,V.1) auf einen 29. März bzw. 11. April. Beide richten sich an nicht näher spezifizierte (Musik-)Direktoren.

Neben den materiellen und formalen Ähnlichkeiten sind vor allem auch die inhaltlichen Parallelen beider Briefe erwähnenswert: In beiden bittet Timanoff um ein Engagement für die kommende Konzertsaison, da sie plane „von Neujahr an bis Anfang Februar in Deutschland [zu] concertiren“. Als markant sticht vor allem ihr Einstiegssatz hervor, der in beiden Briefen identisch formuliert auf die Grußformel folgt: „In der Hoffnung, daß mein Name Ihnen nicht unbekannt ist, erlaube ich mir…“ In ihrer weiteren Formulierung weichen die Briefe nur unwesentlich voneinander ab. Identisch ist wieder der letzte Satz vor der Abschiedsformel: „Ich hoffe, daß Sie die Güte haben werden mir ein paar Worte zu schreiben, und daß Ihre Antwort, keine abschlägige sein wird.“ Beide Briefe unterzeichnet sie als großherzogliche sächsische Hofpianistin und ergänzt zusätzlich ihre Korrespondenzadresse in Sankt Petersburg, „Znamenskaja, 26“.

In einer möglichen Lesart tritt aus den Briefen eine klare Konzertmanagement-Strategie hervor: Timanoff plante eine Deutschlandtournee zwischen Neujahr und Februar und bemühte sich hierfür eigenständig um Auftrittsmöglichkeiten. Aufgrund der z.T. deckungsgleichen Formulierung scheinen die Briefe einer Serie von Anschreiben zu entstammen, die Timanoff innerhalb weniger Wochen an verschiedene Musikdirektoren verfasste. Mittels des ersten Satzes appelliert sie an einen gewissen Bekanntheitsgrad ihrer Person und arbeitet so implizit an der Bewahrung ihres Namens im kulturellen Gedächtnis. Indem sie schließlich als großherzogliche sächsische Hofpianistin unterzeichnet, markiert sie ihre Ausbildungsbeziehung zu Franz Liszt in Weimar und ordnet sich in der Tradition der Neudeutschen Schule ein.

Auf den Spuren einer Datierungsfrage...

Auch wenn sich die Briefe, aufgrund fehlender Jahresangaben, nicht eindeutig innerhalb von Timanoffs Biografie situieren lassen, lohnt der genauere Blick auf die Datierungsfrage dennoch: Was können die Quellen über Vera Timanoffs Konzerttätigkeiten im deutschsprachigen Raum aussagen? In welchen Jahren könnte die Pianistin sie verfasst haben? Was ist über eine potenzielle Deutschlandtournee Timanoffs und/oder ihrer Rezeption bekannt? Auf den Spuren des möglichen Entstehungszeitraums der Quellen wenden sich die folgenden Ausführungen zunächst dem biografischen Forschungsstand um Vera Timanoff zu. Nach einer ersten Datierungseingrenzung können unter Hinzunahme von Pressezeugnissen die Anschreiben schließlich als erhellendes Indiz für die bislang wenig erforschten künstlerischen Tätigkeiten Timanoffs nach 1900 gelesen werden.

Rara/FMG Timanoff,V.3 © Archiv fmg
Rara/FMG Timanoff,V.1 © Archiv fmg

Wer war Vera Timanoff? Was ist bisher bekannt?

Geboren 1855 in Ufa (heute in der Republik Baschkortostan) studierte Vera Timanoff Klavier, u.a. bei Anton Rubinstein am Konservatorium in Sankt Petersburg, Ende der 1860er Jahre dann bei Carl Tausig in Berlin und ab 1875 bei Franz Liszt in Weimar und Budapest. 1880 folgte die Ernennung zur großherzoglichen sächsisch-weimarischen Hofpianistin. In diesen und den darauffolgenden Jahren war sie als erfolgreiche Konzertpianistin und Kammermusikpartnerin, später auch als Klavierpädagogin, tätig und erlangte internationales Standing.

In ihrem umfassenden Lexikonartikel von 2008 (überarbeitet 2018) trägt Silke Wenzel die Erkenntnisse der bisherigen biografischen Forschungen zu Vera Timanoff zusammen (Bugaichuk 2005, Uzikov 2006). Hieraus gehen signifikante biografische Lücken zum Verbleib der Pianistin ab Ende der 1890er Jahre hervor. Die einzigen erforschten Eckdaten aus dieser Zeit bilden ihre Einspielungen von Welte-Mignon-Rollen mit Werken russischer Komponisten im März 1906 (Hagmann 2002) sowie ihre endgültige Umsiedlung nach Sankt Petersburg im Jahr 1907. Danach sei sie noch als Kammermusikpartnerin von Fjodor Schaljapin in Erscheinung getreten (vgl. Bugaichuk 2005) bis sie 1937 ihr letztes öffentliches Konzert spielte (vgl. Uzikov 2006). Das Lebensende der Pianistin resümiert Wenzel wie folgt: „Vera Timanoff starb am 22. Februar 1942 im Alter von 87 Jahren während der 900 Tage andauernden Blockade Leningrads durch deutsche Truppen, vermutlich an Hunger.“ Näheres sei über ihre letzten 35 Lebensjahre bislang nicht bekannt (Wenzel 2008).

In Anbetracht der bisherigen biografischen Forschung zu Timanoff können die Briefquellen an die Herren Musikdirektoren mit erhöhter Sicherheit auf die Jahre ihrer Umsiedlung nach Sankt Petersburg um 1907 datiert werden. Zur Rekapitulation: Zentrale Argumente hierfür sind der Absendeort „Petersburg“, das Verfassungsdatum nach sowohl julianischer als gregorianischer Kalenderzählung und vor allem die klare Angabe einer Korrespondenzadresse in Sankt Petersburg. Dies impliziert, dass sie zu dem Zeitpunkt bereits über eine feste Bleibe in der Stadt verfügte. In dem Versuch die Briefdatierung weiter einzugrenzen, stellt sich allerdings noch die Frage, ob die Anschreiben auf eine tatsächliche Konzertreise der Pianistin nach 1900, beispielsweise durch Rezeption in der deutschsprachigen Presse, zurückgeführt werden können.

Vera Timanoff in der deutschsprachigen Presse ab 1900

Insgesamt fand Vera Timanoff, innerhalb der heute erhaltenen und greifbaren Quellen, zu Lebzeiten 477mal Erwähnung in der deutschsprachigen Presse – 358-mal vor und 119-mal nach 1900. Letztere 119 Erwähnungen lassen sich inhaltlich in zwei Gruppen einteilen: A) Konzertankündigungen oder Rezensionen und B) Anzeigen von Künstler-Adressen. Beide Gruppen sind für die weitere Kontextualisierung der undatierten Briefquellen von Relevanz.

A) Die Musikzeitschrift Signale für die Musikalische Welt berichtet im Jahr 1900 zweimal über Vera Timanoff, darunter eine Rezension vom 24. März, die das wohl alljährliche Konzert der Pianistin in Sankt Petersburg bespricht. 1901 folgt ein Bericht im Mährische[n] Wochenblatt über ein Konzert Timanoffs in Olmitz (heute Tschechien) zum 50jährigen Jubiläum des städtischen Kunstvereins. Acht Jahre später kündigt die Leitmeritzer Zeitung für den 22. Januar 1909 ein weiteres Konzert der Pianistin in der Aussiger Region in Nordböhmen (heute Tschechien) an. Die Rezeption von Timanoffs Konzertaktivitäten in der deutschsprachigen Presse endet schließlich mit ihrem Auftritt bei der Zentenarfeier Franz Liszts im Oktober 1911 in Budapest, über den die Tageszeitung Pester Lloyd zweimal berichtet. Eine Besprechung dieses Konzerts mit namentlicher Erwähnung Timanoffs findet sich zudem in einem Brief der Musikschriftstellerin Marie Lipsius an Philipp Fiedler vom 9. März 1911, der ebenfalls im Quellenbestand des fmg ist. Aus den wenigen vorhandenen Konzertankündigungen und Kritiken lässt sich daher kein sicherer Beleg für eine Deutschlandtournee Timanoffs in den Monaten Januar und Februar eruieren. Vielmehr reflektiert die Zusammenschau der Konzertberichterstattung ab 1900 eine starke Frequenzabnahme im Vergleich zu den Jahren davor, sowie eine auffällige, achtjährige Konzertlücke zwischen 1901 und 1909.

B) Anders aufschlussreich ist der zweite Erwähnungstypus in der deutschsprachigen Presse ab 1900. Unter der Kategorie „Künstler-Adressen, Klavier“ nennt die Wochenzeitung Musikalisches Wochenblatt zwischen Mai 1905 und Dezember 1910 in insgesamt 112 Ausgaben den Namen Vera Timanoffs unter Angabe ihrer Petersburger Adresse, Znamenskaja 26 – dieselbe wie auf den undatierten Briefquellen des fmg. Engagementanträge seien bitte dorthin zu richten. Zusammengenommen bietet dies wichtige Hinweise auf die Umsiedlung Timanoffs nach Sankt Petersburg, vermutlich schon um 1905 (!), und den insistenten Versuch, ihre neue Adresse im deutschsprachigen Raum zu verbreiten, um möglicherweise wieder vermehrt an Konzertengagements zu gelangen.

Indizien und neue Fragen um Timanoffs Konzertaktivität nach 1900

Am Ende dieser Spurensuche angekommen, lässt sich Folgendes festhalten: Trotz ihrer Umsiedlung nach Sankt Petersburg schien Vera Timanoff die klare Intention zu hegen, an ihre bisherige Karriere im deutschsprachigen Raum anzuknüpfen und diese weiter fortzusetzen. Die beiden Briefdokumente des fmg, in Zusammenschau mit biografischen Forschungen sowie ihrer Erwähnung in Form von Pressequellen, zeugen von dieser aktiven, nahezu insistenten Bemühung. Nicht belegt werden konnte, dass ihr nachhaltig gelang ihre Karriere, zumindest im deutschsprachigen Raum, nach 1900 forstzusetzen. Der Blick in die Berichterstattung suggeriert sogar, dass es vermutlich nie zu der von ihr intendierten Konzerttournee durch Deutschland kam. Allein eine Ankündigung für den 22. Januar 1909 in Leitmeritz bietet Hinweis auf ein vereinzeltes Konzert der Pianistin. Da nach 1911 ihre Erwähnung in der Presse gänzlich abbricht, legt dies die Vermutung nahe, dass sie nach diesem Zeitpunkt, zumindest im deutschsprachigen Raum, nicht mehr öffentlich konzertierte. Damit können sich die Briefdokumente auf die Zeit zwischen ihrer Umsiedlung nach Sankt Petersburg 1905 und ihrem öffentlichen Auftritt in Budapest 1911 datieren lassen.

Hieraus ergeben sich schließlich neue Fragen für eine weitere Spurensuche: Weshalb blieben die Konzertmanagement-Strategien Timanoffs ohne sichtlichen Erfolg? Welche Faktoren trugen möglicherweise zur Hemmung ihrer weiteren, internationalen Karriere bei? Hing der plötzliche Abbruch der Breichterstattung über Timanoff nach der Zentenarfeier von Franz Liszt im Oktober 1911 auch mit weltpolitischen Geschehnissen zusammen – namentlich dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und der Russischen Revolution 1917?

Text: Felisa Mesuere (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender)

Literatur

- Bugaichuk, Alevtina: "Indefatigable Belskaya", in: BASHvest – First electronic newspaper of the Republic of Bashkortostan, Beitrag vom 1. November 2005
- Uzikov, Yuri: "She Dies of Hunger in Besieged Leningrad", in: BASHvest – First electronic newspaper of the Republic of Bashkortostan, Beitrag vom 22. Februar 2006
- Wenzel, Silke: Artikel „Vera Timanova“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 25. April 2018)

 
Vera Timanoff, Fotographie von Fritz Luckhardt, o.D., Sammlung Manskopf der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a. M., Signatur: S36/F01993, URN: urn:nbn:de:hebis:30:2-71303.

Zuletzt bearbeitet: 28.07.2023

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