Mai 2024

Als „girl Friday“ bei Rosina Lhevinne – Einblicke in ein besonderes Schülerin-Lehrerin-Verhältnis

Rosina Lhevinne auf dem Cover des Juilliard News Bulletin von 1963, Signatur: Rara/FMG Lhevinne,R. 1/3 © Archiv fmg.

Die Quelle des Monats Mai lädt dazu ein, über ein bereits publiziertes Dokument und seinen Quellencharakter nachzudenken. Es handelt sich um einen Artikel über die Pianistin und Klavierpädagogin Rosina Lhevinne (1880–1976), der 2015 mit weiteren Quellen vom Antiquariat J&J Lubrano angekauft wurde und in den Bestand des fmg überging. Das Lhevinne Quellenkonvolut enthält außerdem ein Werbeflyer (o.D.), drei Fotos (o.D., 1967, 1969), Cover und Rückseite eines „Juilliard News Bulletin“ (1963), ein Bestellformular für einen Dokumentarfilm (1964), sowie drei Briefe an Helen Coates (1971, 1972, 1975) und eine Haarlocke (1969). Das letzte Dokument bildet einen Artikel ihrer ehemaligen Studentin und persönlichen Assistentin Madeleine Hsu, der 1981 unter dem Titel „The Naked Face of Talent: Rosina Lhevinne“ in der Zeitschrift The American Music Teacher veröffentlicht wurde (Rara/FMG Lhevinne,R. 1/11). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war Lhevinne bereits fünf Jahre verstorben und Hsu Professorin an der Boise State University in Idaho.

Zeitungsartikel: „The Naked Face of Talent: Rosina Lhevinne“ in der Zeitschrift The American Music Teacher, 1981, Signatur: Rara/FMG Lhevinne,R. 1/11 © Archiv fmg
Rosina Lhevinne und Madeleine Hsu, 1981, Signatur: Rara/FMG Lhevinne,R. 1/11 © Archiv fmg

 

Wie verändert sich der untersuchende Blick, wenn ein publizierter Text als aufbewahrungswert erachtet wurde und nun im Archivkontext, genauer: im Quellenbestand einer Pianistin des 20. Jahrhunderts aufzufinden ist? Der Artikel gibt Einblick in die Arbeits- und Lebensweise Lhevinnes nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes 1944. Mit Eintritt in den Witwenstand pflegte sie die Praxis, eine ausgewählte Studentin bei sich aufzunehmen, die sowohl die Aufgabe der berufsbezogenen Assistentin als auch einer privaten Gesellschafterin inne hatte.

 

Doch wer war eigentlich Rosina Lhevinne?

Lhevinnes erste Lebenshälfte war geprägt von Migration und residentieller Mobilität. Sie wurde 1880 in Kiev als Tochter von Jacques und Maria Bessie geboren. In Folge jüdischer Pogrome zog die Familie bereits in Rosinas erstem Lebensjahr nach Moskau. Dort trat sie im Alter von neun Jahren in die Klavierklasse von Sergej Michajlowitsch Remesow am Moskauer Konservatorium ein und setzte 1892 ihr Studium bei Wassili Iljitsch Safonow fort. 1898 schloss sie im Alter von 18 Jahren als jüngste Frau in der Geschichte des Konservatoriums das Studium mit Goldmedaille ab und heiratete noch im selben Jahr den bereits absolvierten und erfolgreichen Pianisten Josef Lhevinne (1874-1944). Trotz ihrer herausragenden künstlerischen Fähigkeiten entschied sie sich gegen eine eigene Konzertkarriere und setzte sich stattdessen für diejenige ihres Mannes ein. Zwischen 1899 und 1919 wechselten die Lhevinnes aufgrund von Josefs Lehrtätigkeit an Konservatorien sowie politischer Ereignisse sechsmal den Wohnort. In diesen Jahren machten sie sich durch mehrfache gemeinsame Auftritte als Klavierduo in Europa und den USA einen Namen als Künstlerpaar. Zudem war Rosina als Lehrassistenz ihres Mannes tätig und unterrichtete seine Studierenden während seiner Abwesenheit auf Konzerttourneen. Vereinzelte Soloauftritte ihrerseits in Moskau, Chicago und Berlin sind in diesen Jahren ebenfalls verzeichnet. 1906 und 1918 wurden ihre Kinder Constatine und Marianna geboren. Über Tbilissi, Moskau, Paris und Berlin immigrierte die Familie schließlich 1919 in die USA, wo Josef und Rosina 1924 zur ersten Lehrkohorte an der neu gegründeten Juilliard Graduate School in New York gehörten. Die Lhevinnes lehrten und konzertierten gemeinsam in den USA bis 1944, als Josef unerwartet im Alter von 70 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Ein Werbeflyer für Konzerte des Klavierduos aus dieser späten Phase befindet sich im fmg-Quellenbestand (Rara/FMG Lhevinne,R.1/1).

Mit Eintritt in den Witwenstand setzt eine beachtliche berufliche Mobilität im Leben Rosina Lhevinnes ein. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie zu seiner Nachfolgerin an der Juilliard School ernannt und übernahm seine Klavierklasse. Darüber hinaus erhielt sie Sommerdozenturen am Los Angeles Konservatorium, beim Aspen Musikfestival und an der University of California Berkeley und Los Angeles. Lhevinne wurde Lehrerin einer Generation ausgezeichneter US-amerikanischer Pianist*innen und Dirigenten. Zu herausragendem pädagogischen Renommee gelang sie Mitte der 1950er Jahre als zwei ihrer Schüler erste Preise bei internationalen Wettbewerben gewannen: John Browning 1956 bei der Queen Elizabeth of Belgium Competition und Van Cliburn 1958 beim ersten Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau. Weitere Student*innen Lhevinnes waren Misha Dichter, Garrick Ohlsson, Ursula Oppens, Daniel Pollack sowie der Dirigent James Levine und der Komponist John Williams. Ihre Klavierpädagogik wurde in dem 1964 erschienen Dokumentarfilm Madame Rosina Lhevinne: Pianist and Master Teacher gewürdigt. Ein Bestellformular zum Film befindet sich im Quellenbestand des fmg (Rara/FMG Lhevinne,R.1/4).

Neben ihrer Karriere als Pädagogin nahm Lhevinne auch das Konzertieren wieder auf. 1947 trat sie mit W. A. Mozarts „Lodron“ Tripelkonzert und dem Klavierduo Vitya Vronsky und Victor Babin erstmalig in Erscheinung. Weitere Höhepunkte ihrer pianistischen Solokarriere bildeten 1956 eine Darbietung von Mozarts Klavierkonzert in C-Dur mit dem Aspen Festival Orchester sowie 1963, nur wenige Monate vor ihrem 83. Geburtstag, mehrere Aufführungen von Frederyk Chopins erstem Klavierkonzert mit dem New York Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Leonard Bernstein.

Lhevinne setzte sich lebenslänglich für die Vermittlung der Lehrprinzipien ihres Mannes ein (J. Lhevinne, „Basic Principles of Piano Forte Playing“, in: The Etude Music Magazine, 1924), die stark in der Tradition der Russischen Klavierschule verankert waren. Sie unterrichtete bis zum Alter von 96 Jahren an der Juilliard School. Im November 1976 starb sie im Hause ihrer Tochter in Glendale, Kalifornien.

 

Status Passage, Motilität und „girl Fridays“

When her husband died in 1944, Madame Lhevinne started a new tradition: taking in cultured young ladies to help her lead her life. One thing she could not stand was solitude. […] Everyone in the musical world knew that, each year, she would choose one of her students and offer her room and board in exchange for various services. One year, my turn came. It was August 6, 1968, in Paris. (Rara/FMG Lhevinne,R.1/11, S. 26)

In ihrem Artikel legt Hsu ein persönliches Zeugnis von ihrer Zeit als persönliche Assistentin Lhevinnes ab. Aus Mobilitätsperspektive wird deutlich, wie Lhevinnes Status Passage in den Witwenstand mit der Einführung einer „neuen Tradition“ einherging: sie nahm jährlich eine Studentin bei sich auf, die ihr sowohl alltägliche Begleiterin als auch persönliche Assistentin war. Wie aus Hsus Zitat hervorgeht, wollte Lhevinne dabei primär der Einsamkeit nach dem Tod ihres Mannes entgegenwirken. Sie suchte eine vertraute Person, die ihr Gesellschaft leisten und Unterstützung im Alltag bieten konnte. In dieser Praxis zeigt sich gewissermaßen Lhevinnes Handlungsfähigkeit: Sie wusste sich an einem kritischen Wendepunkt im Leben zu helfen und beförderte dadurch implizit die Bedingungen für ihre eigene berufliche Mobilität. Mit Blick auf die herausragende Karriere, die Lhevinne ab 1944, also im Alter von 64 Jahren hinlegte, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Unterstützung durch eine persönliche Assistentin positiv auf ihre Arbeitsfähigkeit auswirkte und die hohe professionelle Aktivität im Alter unterstützte. Soziologisch gesprochen korrespondiert dies mit dem Konzept von Motilität, d.h. den Bedingungen für Bewegung im geographischen aber auch sozialen Raum, die durch den Zugang zu und die tatsächliche Wahrnehmung von Mobilität, aber auch durch die notwendigen Kompetenzen charakterisiert sind. (Kaufmann, Bergmann, Joyce, “Motility. Mobility as Capital”, 2004, S. 750)

It was not long before I would compare myself to Haydn: I was was [sic] my Master’s servant: room and board assured, I could concentrate on my mind and my fingers without worry. But I also wore the livery. I could hardly think of myself; for beside the classes at Juilliard and my own time for practice, Madame Lhevinne was the center of my attention. My triangle was school, apartment, and park. I was living Rosina’s life. (Rara/FMG Lhevinne,R.1/11, S. 27)

Aus Hsus Tätigkeitsbeschreibung liest sich allerdings auch eine gewisse Ambivalenz: einerseits bedeutete ihre Assistenz bei Lhevinne eine große finanzielle Entlastung, die ähnlich wie ein Stipendium ermöglichen sollte, sich ganz auf das eigene Klavierspiel zu konzentrieren, ebenso wie das Privileg der gezielten Förderung als ausgewählte Studentin. Andererseits war dies mit einer gewissen Aufopferungsbereitschaft verbunden – man stand im Dienste der „Meisterin“ deren Alltag Dreh- und Angelpunkt war und „konnte kaum an sich selbst denken“. Auffällig ist auch eine nicht unironische Selbstbezeichnung, die Hsu in Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit gegen Ende des Artikels aufwirft:

I wonder if any of her numerous girls Friday ever had the idea to write about Rosina Lhevinne. I was one of her very last ones. (Rara/FMG Lhevinne,R.1/11, S. 28)

Der Begriff „girl Friday“ meint eine weibliche Büroangestellte, die diverseste Aufgaben übernimmt. Er wurde 1867 von Jane Goodwin Austen (1831-1894) als weibliches Pendant zum „man Friday“ eingeführt, der wiederum an Robinson Crusoes Diener „my Man Friday“ aus Daniel Defoes Roman von 1719 anspielt (Pascal Tréguer, wordhistories.net, Zugriff 12.05.2024). Neue Popularität erhielt der Begriff mit Howard Hawks Film His Girl Friday (Sein Mädchen für besondere Fälle) von 1940. Aufgrund der u.a. pejorativen und sexistischen Konnotation gilt er inzwischen im aktuellen Sprachgebrauch als veraltet (dictionary.cambridge.org, 12.05.2024).

In zahlreichen Anekdoten schildert Hsu ihre Erfahrungen als eine von Lhevinnes letzten „girl Fridays“. Es kommen Facetten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein, die den Blick hinter die rein professionelle Kulisse ermöglichen. Das Bild der „Meisterlehrerin“ wird um eine zwischenmenschliche Dimension ergänzt, die auch die Bedeutung weiblicher Beziehungsnetzwerke in ihrem letzten Lebensabschnitt hervortreten lässt. In Anknüpfung an Marina Lobanovas MUGI-Artikel lässt sich bzgl. des weiteren Forschungsbedarfs klar bestätigen: „die künstlerischen Kontakte von Rosina Lhévinne wären eine Untersuchung wert“, insbesondere im weiteren Sinne eines persönlichen Netzwerks gedacht (Lobanova, Art. „Rosina Lhévinne“, MUGI, 2014). Dies stellt einen vielversprechenden Fokus für die Untersuchung ihres späten Karriereverlaufs nach 1944 dar. Denn die Quelle lässt auch einige Fragen bzgl. Lhevinnes „girl Fridays“-Praxis offen: Nach welchen Prinzipien wurden die Studentinnen ausgewählt? Wenn „[ev]eryone in the musical world knew that, each year, she would choose one of her students“ (Rara/FMG Lhevinne,R.1/11, S. 26), gab es so etwas wie eine Ausschreibung und ein Bewerbungsverfahren? Oder basierte die Vermittlung auf persönlichen Kontakten? Zudem könnten eine Chronologie und genauere Recherche dieser ausgewählten Studentinnen ergiebige (Oral-History-)Quellen in der weiteren Forschung zum vielfältigen musikkulturellen Handeln Lhevinnes darstellen.

Text: Felisa Mesuere (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender)

Rosina Lhévinnes Nachlass befindet sich in der New York Public Library (The New York Public Library for the Performing Arts. Music Division. 40 Lincoln Center Plaza. New York, New York 10023-7498. Rosina Lhevinne Papers

 
Bildunterschrift: Rosina Lhevinne auf dem Cover des Juilliard News Bulletin von 1963, Rara/FMG Lhevinne,R. 1/3 © Archiv fmg

Zuletzt bearbeitet: 10.06.2024

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