Juli 2025
Diese Quelle des Monats entstand im Rahmen des Quellenseminars "Musikerinnen und Mobilität im langen 19. Jahrhundert" in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Georg-August Universität Göttingen im Wintersemester 2024/25 unter Leitung von Felisa Mesuere und Adele Jakumeit.
Tragik, Anmut und Männlichkeit – Drei Opernrollen der Wilhelmine Schröder-Devrient
Am 24. März 1834 schrieb die Opernsängerin Wilhelmine Schröder-Devrient (1804-1860) einen Brief an den Schauspieler Eduard Genast (1797-1866). Sie schrieb in schwarzer Tinte und auf edlem Briefpapier, wahrscheinlich aus einem Gasthaus in Leipzig. Genast hätte ihr angeboten, in naher Zukunft in Weimar zu singen. Doch sie musste dieses Angebot aufgrund ihrer zeitnahen Auftrittspläne in Berlin absagen. Außerdem schrieb sie davon, momentan sehr beschäftigt zu sein, mit der Vorbereitung ihrer Reise nach Berlin und aufgrund von anderen Geschäften:
„Nur der Drang zu häufiger Geschäfte, und die Vorbereitungen zu meiner Reise, konnten mich bis jetzt abhalten werther Freund, Ihr geehrtes Schreiben zu beantworten. Ihren mir gemachten mir sehr werther Antrag: einige Vorstellungen in Weimar zu geben muß ich leider für dießmal ablehnen, da ich die ganze Zeit meines Urlaubs in Berlin zubringen muß.“ (Rara/FMG Schröder-Devrient,W.1)
Beim Lesen dieses Briefs stellten sich mir die Fragen, welche Rollen Schröder-Devrient zu dieser Zeit sang und vor allem, welchem Anliegen sie in Leipzig nachging. Schließlich war sie zu diesem Zeitpunkt erst 29 Jahre alt und konnte dennoch das attraktive Rollenangebot von Genast ausschlagen. Ihr bereits geplanter Spielplan durfte nicht minder attraktiv gewesen sein. Diesen Fragen gehe ich in der Quelle des Monats Juli genauer auf den Grund.
Einen Monat zuvor hatte Carl Devrient (1797-1872), Schröder-Devrients Ex-Mann, von dem sie sich schon 1828 hat scheiden lassen, Dresden verlassen. Erst danach waren sie, so schrieb der Theaterkritiker Julius Bab (1880-1955), erst richtig geschieden. Nach jahrelangen Kämpfen um das Sorgerecht ihrer vier gemeinsamen Kinder gewann letztlich Carl Devrient (vgl. Bab 1932, S. 86f.) und Schröder-Devrient hatte darauffolgend die Möglichkeit, freiere Karriereentscheidungen zu treffen, ohne sich um Kinder kümmern oder den Anweisungen eines Ehemanns folgen zu müssen.
Schon zwischen 1830 und 1833 sang Schröder-Devrient in Paris und London. Sie war aber vor allem an der Sächsischen Staatsoper in Dresden engagiert. Sie reiste also voraussichtlich am 15. oder 16. März 1834 aus Dresden an und sang in der folgenden Woche in Leipzig in vier Vorstellungen: einmal als Desdemona in Rossinis Othello, einmal als Leonore bzw. Fidelio in Beethovens Fidelio und zweimal als Romeo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi (vgl. Schubert 1834, S. 211). Nachdem sie den Brief verfasst hatte, reiste sie, wie angekündigt, weiter nach Berlin.
Zu Schröder-Devrients Desdemona schrieb der Musikkritiker August Kahlert (1807-1864), „[w]er die ganze hohe Bedeutung der Kunst erfahren will, der sehe ihre Darstellung der Desdemona, er wird sein Innerstes auf einen bis dahin vielleicht unbekannten Grad erschüttert fühlen“ (Kühner 1954, S. 231f.). Diese Fähigkeit zu erschüttern stammte sicherlich auch daher, dass die Rolle der Desdemona, wie auch die des Romeo, Shakespeare-Rezeptionen und daher „besonders der Kategorie des Tragischen verpflichtet sind“ (Mungen 2021, S. 30). Schröder-Devrient wurde auch eine Tochter Shakespeares genannt, aufgrund ihrer hoch angesehenen Schauspielkunst (vgl. Bab 1932, S. 92).
Sie hatte in ihrer Opernkarriere viele Rollen nur wenige Male gespielt, wodurch diejenigen, die sie oft spielte, besonders herausstechen. Ihre zwei bedeutendsten Rollen waren Bellinis Romeo und Beethovens Leonore bzw. Fidelio, die beide unterschiedliche Männlichkeiten zum Ausdruck bringen. Bei der ersten handelt es sich um eine typische Hosenrolle (eine männliche Rolle, die mit einer Sängerin bzw. Schauspielerin besetzt wird), bei der zweiten um eine weibliche Rolle, die sich in der Handlung der Oper aber zeitweise als Mann ausgibt. Beide Rollen spielte sie über viele Jahre. Bis auf wenige Ausnahmen handeln auch die weiblichen Rollen ihres Kernrepertoires (neben Desdemona u.a. Donna Anna in Mozarts Don Giovanni, Norma in Bellinis Norma und Valentine in Meyerbeers Les Huguenots) auf eine oft männlich konnotierte Art und Weise: selbstbewusst, aktiv in die Handlung eingreifend (vgl. Mungen 2021, S. 33) und „von einer Stärke geprägt, die ein zentrales Moment in Schröder-Devrients Kunst ausmach[t]“ (Mungen 2005, S. 69). Diese Neigung zeigte sich auch schon in Schröder-Devrients jungen Jahren, in denen sie bereits mit Faszination männliche Rollen auf kleineren Bühnen gespielt hatte (vgl. Mungen 2021, S. 34 ).
Leonore bzw. Fidelio spielte sie das erste Mal am 9. November 1822 in Wien und sie erntete bei dieser Vorführung Ludwig van Beethovens Dank und Anerkennung, sowie die Anerkennung anderer für „die Wiederbelebung des Fidelio, der für alle Zeiten mit ihrem Namen verbunden bleiben wird“ (Kühner 1954, S. 207). Schröder-Devrient war dafür bekannt, ihre männlich konnotierten Darstellungen auf der Bühne bis ins Detail zu perfektionieren, für Leonore unter anderem durch „in Farbe und Schnitt gut gewählte männliche Kleidung“, „in allen ihren Bewegungen dabei natürliche[r] Anmuth“ und ein „besonderes Studium auf die Behandlung des Kopfs“ (Rellstab 1834, S. 205) für Nuancen der Gesichtsausdrücke.
Ihren ersten Auftritt als Romeo hatte sie am 1. Oktober 1833 in Dresden. Die Begeisterung über ihre Aufritte als Romeo war und ist immer noch zahlreich. Einer der eindrucksvollsten Einschätzungen stammt von dem Theaterintendanten Alfred von Wolzogen (1823-1883):
„Vom Wirbel bis zur Zehe war sie Shakespeare’s liebeglühender, jugendlicher Romeo […] Nur einen Zug fügte sie dem Bilde selbstschöpferisch hinzu, der in Shakespeare’s Romeo nicht liegt: sie erhob ihn auch noch in die Sphäre der Helden und stattete ihn mit einem mannhaften Adel und feurigen Ungestüm aus […]. Kaum je hat ein Mann eine Heldenrolle imponirender und glorreicher dargestellt als die Schröder-Devrient ihren Romeo“ (Wolzogen 1862, S. 93).
Ihre erwiesene Fähigkeit, schauspielerische Höchstleistungen wie diese zu vollbringen, war das Ergebnis harter und rastloser Arbeit. Sie sagte selbst einmal: „Ich habe für diese Rollen mein halbes Leben gebraucht“ (Kühner 1954, S. 236). Außerdem schrieb sie:
„Die größte Schwierigkeit für die Darstellung dieser Rolle liegt darin, daß sie für eine Frau geschrieben wurde; die Künstlerin hat daher die ungeheure Aufgabe, ihr Geschlecht vergessen zu machen und in Haltung, Bewegung, Stellung einen feurigen, von der ersten Liebesglut durchdrungenen Jüngling darzustellen. Nichts darf ihr Geschlecht verraten, soll die ganze Situation nicht lächerlich werden. Sie muß gehen, stehen, hinknien wie ein Mann; sie muß den Degen ziehen und sich zum Kampf anstellen wie ein guter Fechter, und vor allen Dingen muß alles Weibische aus ihrem Kostüm verbannt sein. Keine zierlichen Locken, kein eingezwängter Fuß, keine schöne Taille! Das Hutaufsetzen und Abnehmen, das Handschuhaus- und -anziehen ist nicht minder wichtig“ (Kühner 1954, S. 234f.).
Ihr Bestreben nach einer möglichst glaubhaften Darstellung ist unbestreitbar. Der Theaterkritiker Julius Bab schrieb außerdem, sie habe „die Gestalt [Romeos] visionär ergriffen und [habe] nach der Vorstellung bis 5 Uhr morgens im Kostüm wie unter einem schweren Bann dagelegen“ (Bab 1932, S. 91).
So hat sie also in der Woche, bevor sie diesen Brief schrieb, diese drei Rollen aufgeführt, eine davon geradezu gelebt und viel Anerkennung für künstlerische Höchstleistungen erhalten. Zum Zeitpunkt dieses Briefs war sie 29 Jahre alt und die erfolgreichsten Jahre ihrer Opernkarriere standen ihr noch bevor.
Text: Neo Lokabur Reese
(Student im Bachelor Musikwissenschaft an der Georg-August Universität Göttingen, Teilnehmer des Quellen- und Kooperationsseminars „Musikerinnen und Mobilität im langen 19. Jahrhundert“ zwischen dem fmg und dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Göttingen im Wintersemester 2024/25)
LITERATUR
Bab, Julius. Die Devrients. Geschichte einer deutschen Theaterfamilie. Berlin: Georg Stilke, 1932.
Kühner, Hans. Große Sängerinnen der Klassik und Romantik. Ihre Kunst - ihre Grösse - ihre Tragrik. Stuttgart: Victoria Martha Koerner 1954.
Kühner, Hans. Große Sängerinnen der Klassik und Romantik. Ihre Kunst - ihre Grösse - ihre Tragrik. Stuttgart: Victoria Martha Koerner 1954.
Mungen, Anno. Die dramatische Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient. Stimme, Medialität, Kunstleistung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021.
Mungen, Anno. “Von Jeanne d’Arc zu den ‘Memoiren einer Sängerin’. Geschlechterwechsel im Rollenrepertoire Wilhelmine Schröder-Devrients.” In: Betzwieser, Thomas, Daniel Brandenburg, Rainer Franke, Arnold Jacobshagen, Marion Linhardt, Stephanie Schroedter und Thomas Steiert (Hg.).
Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag. München: Ricordi 2005, S. 59-72.
Rellstab, Ludwig. „Wilhelmine Schröder-Devrient.“ In: Verein von Künstlern und Kunstfreunden (Hg.). Neue Zeitschrift für Musik. 2. Band. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1834, S. 185-186, 189-190, 194-195, 197-198, 201-202, 205-207, 209-210, 213-214, 225-226, 229-230.
Schubert, Franz (Hg.). Allgemeine Musikalische Zeitung. 36. Jahrgang. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1834.
Wolzogen, Alfred von. „Wilhelmine Schröder-Devrient.“ In: (Fehlende*r Herausgeber*in). Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-Lexicon. Band 6. Leipzig: Brockhaus, 1862, S. 81-101.
- Porträt von Wilhelmine Schröder-Devrient. Stahlstich von Charles Auguste Schuler. Karlsruhe, Kunstverlag, 1823/1859. Quelle: München, Staatliche Graphische Sammlung, Inventar-Nr. 242260 D, www.portraitindex.de/documents/obj/34708349
Zuletzt bearbeitet: 04.07.2025
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