September 2025

Diese Quelle des Monats entstand im Rahmen des Quellenseminars "Musikerinnen und Mobilität im langen 19. Jahrhundert" in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Georg-August Universität Göttingen im Wintersemester 2024/25 unter Leitung von Felisa Mesuere und Adele Jakumeit.

Eine Postkarte von Laura Rappoldi-Kahrer als Wissensträger von Mobilitätsaspekten

Neben einem Brief von 1897 an den Musikkritiker und Komponisten Kamillo Horn, befindet sich im Archiv des FMG eine Postkarte von 1909 an einen Herrn cand. med. A. Scharlau. Die Karte war als Neuanschaffung bereits im Juni 2023 Quelle des Monats. Auf dieser Postkarte findet sich nur wenig Text und kein gedrucktes Motiv. Im Mittelpunkt stehen hier handgeschriebene sechs Takte mit dem Zusatz „Zur Erinnerung an / Laura Rappoldi-Kahrer / Königlich sächsische Kammervirtuosin / Dresden 23 Oct. / 1909“.

Postkarte von Laura Rappoldi-Kahrer an einen Herrn cand. med. A. Scharlau. Dresden, 23.10.1909
Eigenhändiges musikalisches Albumblatt mit Unterschrift auf der Rückseite der Postkarte geschrieben von Laura Rappoldi-Kahrer. Dresden, 23.10.1909

 

Die Quelle wirft direkt einige Fragen auf: Wer war A. Scharlau, an den die Postkarte geschrieben wurde? In welcher Beziehung stand er zu Rappoldi-Kahrer? Worum handelt es sich bei den sechs Takten, die auf der Postkarte nicht näher benannt sind? Handelt es sich um eine bereits bestehende Komposition und wenn ja, warum schrieb Rappoldi-Kahrer diese auf der Postkarte nieder? Bezieht sie sich mit der Anmerkung „Zur Erinnerung“ eventuell auf ein bestimmtes musikalisches Ereignis? Zur Beantwortung einiger dieser Fragen ist es notwendig, möglichst viel biografischen Kontext zu kennen, um die Quellen genauer einordnen zu können. Bei Laura Rappoldi-Kahrer handelt es sich jedoch um eine Person der Musikgeschichte, über die bisher wenig geforscht wurde. In einigen Lexika findet man biografische Daten und immer wieder taucht sie als ‚Nebenfigur‘ in Beiträgen zu Zeitgenoss*innen auf. Konkrete Forschungen zu ihrer Person finden sich allerdings keine. Das gestaltet die mögliche Beantwortung der aufkommenden Fragen und damit eine genaue Erschließung der Quelle schwierig. Indem die Postkarte hinsichtlich ihrer Mobilitätsaspekte untersucht wird, kann jedoch eine Perspektive eingenommen werden, mithilfe derer man beim Betrachten einer Quelle, die vor allem Fragen aufwirft, trotzdem zu Erkenntnissen gelangen kann. Dies soll im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.

Kurze biografische Einordnung

Aus den Onlinedatenbanken von MUGI und dem Sophie-Drinker Institut, sowie einem Kapitel im fünften Band der „Musikalischen Studienköpfe“ von La Mara von 1879 erhält man ausreichend biografische Daten, um das Leben und die Karriere Laura Rappoldi-Kahrers kurz zu umreißen: Am 14.01.1853 als Laura Kahrer in Mistelbach in Österreich geboren, erhielt sie seit dem elften Lebensjahr Klavierunterricht. Ihre Lehrer erkannten früh ihr Talent und so spielte sie nach einem Jahr Unterricht bereits im Schloss Schönbrunn der Kaiserin Elisabeth vor, die sich bereit erklärte, die Kosten für ihre weitere Ausbildung am Konservatorium zu übernehmen. Zwischen 1870 und 1874 unternahm sie mit ihrer Familie Konzertreisen größtenteils in Osteuropa und nahm in diesen Jahren auch Unterricht bei Franz Liszt, Adolph Henselt und Hans von Bülow. 1874 heiratete sie den Violinisten Eduard Rappoldi. Ihre musikalischen Tätigkeiten nahmen nach der Eheschließung stetig ab. So gab sie 1888 auf Wunsch ihres Ehemanns die Konzertreisen sogar gänzlich auf. 1877 war die Familie nach Dresden gezogen, wo Eduard Rappoldi zum ersten Hofkonzertmeister am königlichen sächsischen Hof und Laura Rappoldi-Kahrer zwei Jahre später zur königlich-sächsischen Kammervirtuosin ernannt wurde. Ab 1890 war Rappoldi-Kahrer Lehrerin für Klavier am Dresdener Konservatorium und erhielt dort 1911 eine Professur. 1903 verstarb ihr Ehemann. Ab diesem Zeitpunkt zog sich Rappoldi-Kahrer immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück bis sie am 01.08.1925 in Dresden verstarb. 

Die Postkarte wurde verfasst, als Rappoldi-Kahrer bereits verwitwet war und sich aus dem Konzertleben zurückgezogen hatte. Zu dieser Zeit konzertierte sie lediglich im kleineren Rahmen oder zu besonderen Anlässen in ihrem Wohnort Dresden. Diese eingeschränkte konzertierende Tätigkeit macht die Frage nach dem Kontext der Postkarte, die mit einem musikalischen Ereignis in Verbindung zu stehen scheint, noch interessanter.

Erschließungswege der unbenannten Takte

Mithilfe des Online-Programms Musipedia wurde versucht, die sechs unbenannten Takte auf der Postkarte zu identifizieren. Das Programm zeigt Übereinstimmungen von kurzen Melodien, die manuell eingegeben werden können, mit existierenden Liedern und Stücken. Die größten Übereinstimmungen gab es dabei mit der Sonate K.141 in D-Moll von Domenico Scarlatti

Notentext der Sonate K.141 in d-Moll von Domenico Scarlatti
Handschriftliches Notenzitat auf der Postkarte von Laura Rappoldi-Kahrer an einen Herrn cand. med. A. Scharlau. Dresden, 23.10.1909


Die ersten vier Takte sind, bis auf Umkehrungen der Akkorde in der linken Hand identisch. Ab Takt fünf schien Rappoldi-Kahrer dann allerdings mit einem fantasieartigen Zweiunddreißigstel-Lauf eine harmonische Wendung hin zur Dominante zu beschleunigen. Bedenkt man die Fermate und die Anmerkung „etc. etc.“, so ergibt das Enden auf dem Halbschluss bei einem so kurzen Incipit durchaus Sinn. Auch mit dem möglicherweise identifizierten Stück fällt eine Erschließung des Hintergrunds der Postkarte trotzdem nicht leichter. Dem Verzeichnis von Stücken, die Rappoldi-Kahrer spielte, das sich bei MUGI findet, ist lediglich folgendes zu entnehmen: „Scarlatti, Domenico. Allegro für Klavier (keine Präzisierung möglich)“. Beachtet man, dass es Ausgaben der Sonate mit der Tempoangabe Allegro gibt, etwa die 1910 von Alessandro Longo im neunten Teil der Opere complete per clavicembalo bei G. herausgegebene, so ist es durchaus möglich, dass damit jene Scarlatti-Sonate gemeint sein könnte. Das würde allerdings nur die mögliche Identifizierung bestätigen, nicht aber bei der Aufklärung des (Aufführungs-)Kontexts helfen. Zur Person A. Scharlau konnte nichts Weiteres herausgefunden werden.

Das Medium Postkarte als Indiz für Mobilität

Aus Mobilitätsperspektive lässt sich die Postkarte auch ohne konkreteren Kontext ergebnisreich betrachten. Das von Rappoldi-Kahrer genutzte Medium an sich macht diese Quelle zu einem Indiz von Mobilität. Die Postkarte als Medium der schriftlichen Kurzkommunikation gibt es seit etwa 150 Jahren. Während der Blütezeit der Postkarte Ende des 19. Jahrhunderts kam es, durch verschiedene Faktoren bedingt, auch zu einer wachsenden Mobilität, die einen neuen Bedarf an schneller Kommunikation erforderte und ermöglichte. Die über den Brieftext überlieferten Informationen treten bei der Postkarte nicht selten in den Hintergrund, da mehr Wert auf das Bildmotiv und einen kurz gefassten Gruß gelegt wird. Durch das gezielte Aussuchen von Motiven kann der Geschmack von Empfänger*innen reflektiert werden und außerdem eine Art Verschlüsselung hergestellt werden, bei der das Bildmotiv sozusagen ein Insider ist, dessen Kontext nur Absender*in und Empfänger*in verstehen. Postkarten wurden und werden immerhin meist ohne Umschlag verschickt. Die von Rappoldi-Kahrer geschriebenen Takte stellen eine solche Verschlüsselung mittels Motiv dar. Den uneingeweihten Betrachter*innen wird aus der Karte nicht klar, worum es bei dem Austausch von ihr und Scharlau genau ging. Ein Brieftext hätte deutlich mehr Informationen direkt vermittelt. 2024 ist ein Sammelband erschienen, der sich ausschließlich mit Musikpostkarten auseinandersetzt (Helms, Lehmann, Müller-Oberhäuser 2024). Vor allem gedruckte Bildmotive, die visuelles Wissen über Musik vermitteln, fallen meist unter den Begriff der Musikpostkarte. Noten auf Postkarten stellen jedoch auch keine Seltenheit dar. Was diese Postkarte von anderen Musikpostkarten unterscheidet ist der Fakt, dass das Motiv handgeschriebene Takte sind, die eventuell sogar im Vorhinein vom Empfänger erwünscht waren:

Zwar verfügt die Postkarte nicht über ein gedrucktes Motiv, ein Druck auf der Korrespondenzseite ist dafür umso aufschlussreicher: „Postkarte - Antwort“. Hierbei handelt es sich um Postkarten, die man seit 1872 als Teil eines Doppelkartenformulars verschicken konnte und bei denen man als Absender mittels mitgeschickter und bereits frankierter Karte um eine Antwort bat. Möglich ist es also, dass Rappoldi-Kahrer mit der Postkarte einen konkreten Wunsch Scharlaus erfüllte. Aufgrund der fehlenden zweiten Karte dieses Doppelkartenformulars, ließ sich dazu aber nichts genaueres herausfinden.

Eine Quelle, wie die vorliegende von Laura Rappoldi-Kahrer konnte so auch ohne, dass sie fehlende Puzzleteile in einer fast perfekt erschlossenen Biografie darstellt, Anreize für die Forschung geben. Indem man sie als symptomatisch für einen Aspekt von Mobilität (Kommunikation) betrachtet, kann auch eine Quelle, die mehr Fragen als Antworten zu liefern scheint, für das Schaffen von Forschungsergebnissen dienen. Trotzdem stellen sich einem, je länger man sich mit Leben und Quellen Laura Rappoldi-Kahrers auseinandersetzt, stetig neue Fragen, was den Forschungsbedarf zu ihrer Person nur unterstreicht. 


Text: Moritz Becker (Student im Bachelor Musikwissenschaft an der Georg-August Universität Göttingen, Teilnehmer des Quellen- und Kooperationsseminars „Musikerinnen und Mobilität im langen 19. Jahrhundert“ zwischen dem fmg und dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Göttingen im Wintersemester 2024/25)

Literatur

Helms, Dietrich: „Zur Einleitung. Das visuelle Wissen von der Musik. Bildpostkarte als Quelle (musik-)historischer Forschung.“ In: Helms, Dietrich, Jan Lehmann und Christoph Müller-Oberhäuser (Hg.). Musik per Post. Bildpostkarten und das visuelle Wissen von der Musik. Wien: Böhlau, 2024, 13-24.

Holzheid, Anett: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin: Erich Schmidt, 2011.

Lipsius, Marie: Musikalische Studienköpfe. Fünfter Band: Die Frauen in Tonleben und Gegenwart. 2. Auflage, Leipzig: H.Schmidt&C.Günther, 1879.

Hoffmann, Freia (2010): Rappoldi-Kahrer, Laura, geb. Kahrer, verh. Rappoldi. Online im Internet: URL: Rappoldi-Kahrer, Laura - Sophie Drinker Institut [Stand: 16.03.2025].

Wenzel, Silke (05.09.2008): Laura Rappoldi-Kahrer. Online im Internet: URL: Objekt-Metadaten [Stand: 16.03.2025]

 
Porträt von Laura Rappoldi-Kahrer. Fotograf: Hugo Danz. [o.O.], [o.D.]. Quelle: sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/manskopf/content/titleinfo/5468333

Zuletzt bearbeitet: 04.09.2025

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