Felisa Mesuere
Promotionsprojekt von Felisa Mesuere
Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung queerer Biographien auf der zeitgenössischen Opernbühne. Dabei soll ausgelotet werden, welche historiographischen Potenziale in der Gattung liegen, um Geschichten nicht‑normativer Geschlechtlichkeit zu erzählen. Hierfür werden Erkenntnisse aus zwei Forschungsfeldern zusammengeführt: queertheoretisch informierte Biographieforschung auf der einen Seite und Musiktheater als performativ-historiographisches Genre auf der anderen.
Als queere Biographien definiert Joris A. Gregor solche, „in denen das Geschlecht und/oder die Sexualität der Protagonist*innen von der erwarteten Zweigeschlechtlichkeit und/oder Heterosexualität abweicht“ (2022, S. 573). Wichtige Anknüpfungspunkte innerhalb queertheoretisch informierter Biographieforschung bilden zum einen das Konzept biographischer Konstruktionsweisen (Dausien 1996) und zum anderen die Vorstellung einer normativen biographischen Linearität bzw. chronologischen Verzeitlichung der geschlechtlichen Normalbiographie (Weidenhau 2015). Damit seien queere Biographien implizit gefordert, sich zu „normative[n] Strukturierungskonzepten“ wie der Geschlechterbinarität zu verhalten (Gregor 2022, S. 575). Mögliche Strategien können hierbei Abgrenzung, kritische Bezugnahme oder affirmative Aneignung darstellen. Weitergedacht, müsse bei der Analyse queerer Biographien ein besonderes Augenmerk u.a. auf der doppelten Verzeitlichungslogik liegen, die aus dem Coming-Out als möglichem Wendepunkt resultiere. Ziel dieser Forschungsrichtung ist es, einen wichtigen Beitrag zu queerer Repräsentation zu leisten und dabei „der Enteinzelung queerer Individuen“ entgegen zu wirken (ebd., S. 578).
Die zentrale theoretische Prämisse meiner Arbeit liegt im Verständnis von Musiktheater als „historiographisches und zugleich musikalisches Genre“ (Langenbruch 2018, S. 75; 2021, S. 21), welches an den durch Hayden White initiierten narrative turn (1973) in den Geschichtswissenschaften anschließt. Die Übertragung seiner geschichtstheoretischen Reflexion auf den Kontext ‚Bühne‘ und damit die Frage nach den intermedialen Konstruktionsmöglichkeiten bzw. Darstellungsmodi von Geschichte ist innerhalb eines größeren, interdisziplinären Forschungsfelds zu verankern. Dieses widmete sich seit dem letzten Jahrzehnt, zunächst verstärkt aus geschichts- und theaterwissenschaftlicher Perspektive, dem Phänomen performativer Geschichtsschreibung und Biographik auf der (Musik)Theaterbühne. Für die musikwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich hat Anna Langenbruch den Neologismus des ‚Musikgeschichtstheaters‘ geprägt. Dieser bezeichnet „Bühnenereignisse, die Musikgeschichte thematisieren, indem sie eine Geschichtserzählung mit einer musikalischen und einer schauspielerisch-szenischen Ebene verbinden […], eine Form von Geschichtsschreibung im Medium Musik.“ (2021, S. 21)
Die zeitgenössische Ausprägung des Phänomens ‚Musikgeschichtstheater‘ verortet Langenbruch innerhalb eines „generellen Boom[s] populärer Geschichtskulturen“ seit den 1970er Jahren (2021, S. 23f.). Kennzeichnend hierfür sei ein „Mischverhältnis faktualer und fiktionaler Elemente und einem variablen ‚Tatsächlichkeitsanspruch‘“ (2018, S. 76; vgl. auch Korte und Paletschek 2009). Im Musiktheater werde letzterer nicht nur auf textlicher, sondern auch auf musikalischer Ebene erzeugt. Langenbruch weist in diesem Kontext auf die unterschiedlichen Musiktheater-Akteur*innen hin, die an diesem Konstruktionsprozess beteiligt sind – inklusive des Publikums, welches ebensolche Tatsächlichkeitsansprüche an das Genre herantrage. Dadurch rückt Langenbruchs Ansatz die Prozesshaftigkeit des Aushandelns und Wahrnehmens von (Musik-)Geschichte in den Vordergrund, was mit einem verstärkten Interesse an der Medialität von Geschichte einher geht.
Ausgehend von Langebruchs Definition des Musikgeschichtstheaters verfolge ich in dieser Arbeit die Fragestellung, wie queere Biographien, Geschlechter- und Musikgeschichtsbilder in aktuellen Opernwerken auf kompositorischer, inszenatorischer, performativer und rezeptionsästhetischer Ebene konstruiert und mit einander verschränkt werden. Drei Fallbeispiele sollen dabei im Zentrum der Untersuchung stehen:
Alexina B. ist eine dreiaktige Oper, die in enger Kollaboration zwischen der Komponistin Raquel García-Tomás, der Librettistin Irène Gayraud und der Regisseurin Marta Pazos während der Covid-19 Pandemie kreiert worden ist. Finanziert durch ein Leonardo-Stipendium der Stiftung BBVA feierte die Oper im März 2023 im Gran Teatre del Liceu Barcelonas ihre Uraufführung. Das französischsprachige Libretto basiert auf den Memoiren von Adélaïde Herculine Barbin (1838–1868), später Abel Barbin, einer intergeschlechtlichen Person, der bei Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet wurde. Die Oper erzählt mittels Rückblende die Geschichte Barbins. Dabei wird diese Person der Zeitgeschichte nicht allein als Opfer traumatisierender Lebensumstände, sondern auch als empowertes Subjekt dargestellt.
Lili Elbe ist die erste Oper in voller Länge über eine Person mit Transitionserfahrung, die dezidiert für eine*n Sänger*in mit ebensolcher Erfahrung in der Titelrolle komponiert wurde. Inmitten der Covid-19 Pandemie entstand die Oper als Auftragswerk des Konzert und Theater St. Gallen für den Komponisten Tobias Picker. In Zusammenarbeit mit Aryeh Lev Stollman (Libretto), Krystian Lada (Regie) und Lucia Lucas (Sängerin und Dramaturgin der Autoren) wurde die Oper zur Spielzeiteröffnung im Oktober 2023 uraufgeführt. Das Libretto basiert auf der Lebensgeschichte Lili Elbes (1882–1931), einer der ersten Personen die sich geschlechtsangleichender Operationen unterzog. Die Oper fokussiert die letzten Jahre im Leben Elbes und damit die verschiedenen Phasen ihres Transitionsprozesses. Als zentrales dramaturgisches Element fungiert der Orpheus-Mythos, der musikalisch, textlich sowie inszenatorisch mit der biographischen Erzählung verwoben wird und dadurch die Einordnung als Künstleroper unterstreicht.
Orlando. Eine fiktive musikalische Biographie ist eine Oper in 19 Bildern der Komponistin Olga Neuwirth, die als Auftragswerk der Wiener Staatsoper entstand und 2019 dort uraufgeführt wurde. Für das englischsprachige Libretto zeichnen Catherine Filloux und die Komponistin verantwortlich. Die literarische Vorlage bildete Virginia Woolfs gleichnamiger Roman – eine „parodistische Biographie“ (Gilbert 1993) über die Fluidität, Wandelbarkeit und den Konstruktionscharakter von Geschlecht, inspiriert an biographischen Details aus dem Leben der Schriftstellerin und als Cross-Dresserin bekannten Vita Sackville-West (1892-1962). Das Parodistische zeichnet sich u.a. durch die Lebensspanne Orlandos über vier Jahrhunderte aus. Damit kann die Oper auch als Meta-Reflexion über Historizität, das Dasein als Schriftsteller*in und die kulturelle Konstruktion von Zeitlichkeit betrachtet werden.
Alle drei Opernproduktionen haben gemeinsam, dass sie in Bezug auf queere Geschlechtlichkeit Aspekte von Perspektivität verhandeln und durch ein Oszillieren zwischen dem erzählten (historischen) und erzählenden (zeitgenössischen) Moment gekennzeichnet sind. Ähnlich wie Woolf in ihrer fiktiven, meta-historischen Biographie loten die Opernakteur*innen das Verhältnis von Biographie, (Musik)Historiographie und Fiktionalität auf unterschiedliche Weise aus. Um aufzuzeigen, wie queere Biographien auf der zeitgenössischen Opernbühne konstruiert und performativ hervorgebracht werden, verfolge ich bei der Analyse der Fallbeispiele einen multiperspektivischen Mehrebenenansatz, bei dem ich mich auf ein heterogenes, aufführungsbezogenes Quellenmaterial bestehend aus Partitur, Libretto, Szenenfotos, Programmbuch, Aufführungsmitschnitt, Erinnerungsprotokoll, Pressespiegel sowie selbst geführten qualitativen Interviews mit zentralen Akteur*innen stütze.
Vita
seit 2024 Redaktionsmitglied der Zeitschrift StiMMe
seit 2024 Mitglied der Gesellschaft für Musikforschung
seit 2023 Mitglied bei The Writing Academic
WiSe 2022/23 Lehrauftrag für Historische Musikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen, Seminarthema: Grundkurs Historische Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Fachgeschichte
seit 2021 Mitglied im Unabhängigen Forschungskolloquium für musikwissenschaftliche Geschlechterstudien (UFO)
seit 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Historische Musikwissenschaft / Gender Studies im Forschungszentrum Musik und Gender an der HMTM Hannover
2020–2021 Assistenz der Öffentlichkeitsarbeit beim Ensemble Musikfabrik, Köln
2019 Regieassistenz (Produktion: Iphis, Regie: Claudia-Isabel Martin) an der Staatsoper Hannover
2018–2020 Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft (Prof. Dr. Stefan Weiss)
2018 Preisträgerin des Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau
2017– 2020 Master of Arts (Musikwissenschaft und Musikvermittlung) an der HMTM Hannover
Thema der Masterarbeit: „Gender*performanz und Transformation in Inszenierungen von Elena Kats-Chernins Kammeroper Iphis (1997/2005/2019)“
2015– 2016 Auslandsstudium am University College London
2013–2017 Bachelor of Arts (Liberal Arts and Sciences, englischsprachig) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Thema der Bachelorarbeit: „Playing with Morals. Gender Ambiguity in Monteverdi’s L’Orfeo“
Zuletzt bearbeitet: 18.03.2025
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