Musik Szene Osteuropa: Gender-Topographien

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Dialoge zwischen Kunst und Wissenschaft: Vorlesungsreihe und Konzerte im Wintersemester 2007/08

    Einführung

    Auch in Zeiten voranschreitender EU-Osterweiterung ist in Mitteleuropa nach wie vor nur wenig bekannt über ost- und ostmitteleuropäische Musikkulturen. So sind es vor allem die Namen einiger weniger bekannterer Komponisten und Interpreten, die das 'westlich' geprägte Bild 'östlichen' Musiklebens bestimmen: Wie vielschichtig und facettenreich sich dieses hingegen tatsächlich gestaltet, soll mit einer Vortragsreihe erkundet werden.
    Der Schwerpunkt der Veranstaltungen liegt auf dem - im weitesten Sinne - musikalischen Handeln osteuropäischer Künstlerinnen. Damit wird zum einen dem Tatbestand Rechnung getragen, dass vor allem in Rumänien, aber auch in Polen und der ehemaligen Sowjetunion mittlerweile eine beachtliche Reihe von Komponistinnen und Interpretinnen ausgebildet wurde, die zum Teil auch internationale Anerkennung erringen konnten. Zum anderen wurde die Rolle der Frauen im osteuropäischen Musikleben bislang kaum thematisiert: Dies ist insofern notwendig, als die vom Sozialismus offiziell festgeschriebene Gleichberechtigung Frauen zwar den Zugang zu 'Männerberufen' sicherte, das traditionelle Frauenbild sich aber hartnäckig in den Köpfen hielt. Demnach können Frauen zwar, gemäß ihrem angeblichen Zugang zur 'emotionalen' Seite des Lebens, künstlerisch tätig sein; das wahre schöpferische 'Genie' macht sich jedoch nur bei männlichen Musikern bemerkbar. (Dies ein Topos, der auch in Osteuropa offensichtlich eine Rolle spielt.) Auffallend ist etwa, dass die Komponistin Myriam Marbe vielfach für ihre Synthese aus Emotion und Abstraktion in ihrem Schaffen gerühmt wurde - als sichere eine Frau einer 'abstrakten' Kunst wie der Musik gewissermaßen die Bodenhaftung.
    Vor allem Rumänien und Polen, aber auch das Musikleben Rußlands, Jugoslawiens, der DDR und vieler weiterer Staaten sollen jeweils in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Konzerten von WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen vorgestellt und diskutiert werden. Mehrere, eng miteinander verwobene Fragenkomplexe sollen dabei im Auge behalten werden:

    Musik und Politik

    Wie verhält es sich mit den politischen und soziologischen Voraussetzungen der kulturellen Partizipation von Frauen in osteuropäischen Musikkulturen? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Institutionen wie Ausbildungsstätten, Komponistenverbände oder Musikfestivals wie der Moskauer bzw. Warschauer Herbst, die Zagreber Musikbiennale oder die Geraer Ferienkurse für Neue Musik? Bietet Musik evtl. die Möglichkeit, sich dort eine Stimme zu verschaffen, wo individuelle Äußerungen - zumal von Frauen - ansonsten unerwünscht sind? Hiermit hängt die Frage nach der einheimischen Rezeption von Musik osteuropäischer Komponistinnen bzw. nach deren Selbstverständnis eng zusammen. Welche Bedeutung kommt außerdem der (jüdischen, islamischen, christlich-orthodoxen, katholischen) Religion als Moment der (auch künstlerischen) Identifikation zu? Wirkte sich der Zusammenbruch des Kommunismus auch auf das osteuropäische Musikleben und die dortige musikalische Produktion aus - und wenn ja, inwiefern? Kann bei der Erforschung von Kulturen der ehemaligen Ostblockstaaten angesichts der oftmals subtilen Verteilung von 'Macht' sinnvollerweise noch vom Unterdrückungsparadigma ausgegangen werden?

    Ost- westliche Blickrichtungen

    Was Orhan Pamuk jüngst mit Blick auf sein Selbstverständnis als Schriftsteller beschrieb, gilt mit großer Wahrscheinlichkeit auch für das musikalische Schaffen in den ehemaligen Ostblockstaaten: Die Existenz eines offensichtlich dominanten 'Anderen', hier: des Westens, prägt die eigene künstlerische Identität. Identifikation und Abgrenzung wirken sich dabei auch musikalisch aus. Welche Rolle spiel(t)en etwa ursprünglich westeuropäische Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts (Stichwort: Darmstadt) für die eigene musikalische Produktion? Gibt oder gab es eine musikalische Postmoderne in Osteuropa? Wie kann diese beschaffen sein? Umgekehrt sind die schon früh, besonders aber im 18. und 19. Jahrhundert verbreiteten Bilder und Klischees des Westens vom Osten - Stichwort: Orientalismus - von Bedeutung: Welche Folgen haben diese für das Selbstverständnis Osteuropas, speziell für das dortige künstlerische Handeln von Frauen? Um jene Fragen sinnvoll zu diskutieren, ist der Blick in die Geschichte, sprich: historische Tiefenschärfe, notwendig.

    Volks- und Popkultur

    Ein wichtiges osteuropäisches Phänomen scheint in der Integration volksmusikalischer Elemente in 'hochkulturelle' Produktion, aber auch in den Bereich der Popularmusik, zu bestehen; die Abgrenzung zwischen diesen Sphären ist hier offenbar weniger ausgeprägt als im 'Westen'. (Zu fragen wäre etwa, ob es in Osteuropa jemals eine ausgeprägte 'Idee der absoluten Musik' gab.) Entsprechend gilt es, die gesamte Musikkultur - auch von ethnischen Minderheiten wie Roma und Sinti - ins Blickfeld zu bekommen: Gefragt ist hier nicht zuletzt die Ethnomusikologie.

    Gender?

    Wer sich mit Frauen in den Musikkulturen Osteuropas beschäftigt, darf seinen Untersuchungsgegenstand nicht isolieren. Die Vorlesungsreihe thematisiert zwar schwerpunktmäßig Musikerinnen, bezieht aber das gesamte Spannungsfeld - männliche wie weibliche, westliche wie östliche kulturelle Prägungen - in die Diskussion mit ein. Erst unter Berücksichtigung des gesamten Bezugssystems ist Aufschluss über die jeweiligen Musikkulturen möglich.

    Links

    Küche, Kinder, Kommunismus
    (Antje Mayer im Gespräch mit Marija Wakounig, April 2007)

    "Polen ist ein schreckliches Land"
    (Kazimiera Szczuka über Kirche, Kapitalismus und Frauenrechte in Polen, Freitag, 7.1.2005)

    Prä-Feminismus im Post-Kommunismus
    (Susanna Niedermayr, in: skug. Journal für Musik. Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projektes Gendertronics, initiiert vom Club Transmediale, erstveröffentlicht.)

    Reportagen zum Musikleben Osteuropas

    Forschungsstelle Osteuropa Bremen

    Literatur (Auswahl)

    Thomas Beimel: Vom Ritual zur Abstraktion. Über die rumänische Komponistin Myriam Marbe, Unna: Tokkata-Verlag 1994.

    Detlef Gojowy: Komponistinnen in der Sowjetunion, in: Vom Schweigen befreit: Internationales Komponistinnen-Festival Kassel, 20. bis 22. Februar 1987, Veranstalter: Kulturamt der Stadt Kassel in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Arbeitskreis „Frau und Musik“, hg. v. d. Bevollmächtigten der Hessischen Landesregierung für Frauenangelegenheiten, Wiesbaden 1987, S. 56-59.

    Detlef Gojowy (Hg.): Studien zur Musik des XX. Jahrhunderts in Ost- und Ostmitteleuropa, Berlin: Verlag Arno Spitz 1990 (= Osteuropaforschung, Bd. 29).

    NEUERSCHEINUNG! Detlef Gojowy: Myriam Marbe. Neue Musik aus Rumänien (= Europäische Komponistinnen, hg. v. Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Bd. 5), Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2007.

    Eva-Maria Houben (Hg.): Violeta Dinescu, Saarbrücken: Pfau 2004.

     

    Renate Hüsken: Ella Adaïewsky (1846-1926). Pianistin - Komponistin - Musikwissenschaftlerin, Köln: Dohr 2005. Adaïewsky im www 

     

    Michael Kurtz: Sofia Gubaidulina: Eine Biografie, Stuttgart: Urachhaus 2001.

     

    Renate Mattei, Brunhilde Sonntag (Hg.): Annäherung II – an sieben Komponistinnen. Mit Berichten, Interviews und Selbstdarstellungen, Kassel 1987 (u.a. Infos zu Adriana Hölszky, Myriam Marbe und Violeta Dinescu).  


    Susanna Niedermayr/Christian Scheib: europäische meridiane. neue musik territorien. reportagen aus ländern im umbruch, Saarbrücken: Pfau 2003.

    Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München, Wien: Carl Hanser 2002.

     

    Ders.: Die Wiederkehr des Raumes – auch in der Osteuropakunde, in: Der Raum als Wille und Vorstellung. Erkundungen über den Osten Europas (= Osteuropa, 35. Jg., Heft 3, März 2005), S. 5-16.

     

    Zuletzt bearbeitet: 19.12.2016

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