Biographie und Geschlecht
Biographieforschung ist bereits seit mehreren Jahren ein zentrales Forschungsfeld des fmg. Seit der Gründung im Jahr 2006 sammelt das Zentrum historisches Quellenmaterial, welches das musikkulturelle Handeln von Frauen aus dem späten 18. bis zum 20. Jahrhundert dokumentiert. Dieser einzigartige Bestand umfasst derzeit ca. 2.000 Medieneinheiten, darunter wertvolle Buch- und Notenausgaben sowie wortsprachliche Quellen in verschiedenen Sprachen wie handschriftliche Briefe, Postkarten, Konzertprogramme, Zeitungsartikel, Albumblätter sowie ikonographische Quellen von und über Komponistinnen, Musikerinnen und Musikmäzeninnen.
Dieser Bestand eignet sich in verschiedener Hinsicht hervorragend für biographische Studien zu bisher nicht oder nur wenig erforschten musikkulturell handelnden Frauen. Dabei bilden die Quellen einerseits den Ausgangspunkt zu weiteren biographischen Untersuchungen und Kontextualisierungen. Andererseits liefern die Quellen aber auch biographische Informationen über musikkulturell handelnde Frauen, die bisherige Forschungen ergänzen, oder aber in ein anderes Licht rücken können.
So verweist ein Brief von Mathilde Wesendonck, geb. Luckemeyer (1828-1902) auf eine Facette ihres kulturellen Handelns, die in der (musikwissenschaftlichen) Forschung und in biographischen Beschreibungen zu ihr bisher meist ausgeblendet wurde: Mathilde Wesendonck war selbst schöpferisch tätig und nahm nicht nur die Rolle der Muse des ‚großen‘ Komponisten Richard Wagner ein, auf die sie häufig reduziert wird.
Spätestens an dieser Stelle ist nach den Ursachen für eine derart einseitige Rezeption zu fragen. Warum werden Frauen wie Mathilde Wesendonck in erster Linie als Muse rezipiert und nicht durch ihre eigenen schöpferisch-künstlerischen Tätigkeiten bekannt? Um diesem nachzugehen, bedarf es allgemeiner Reflexionen über die literarischen und wissenschaftlichen Bedingungen der Gattung Biographie sowie über ihr Verhältnis zur Musikgeschichtsschreibung.
Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein um die Konstruktivität von Biographik (und Musikgeschichtsschreibung im Allgemeinen) gilt es, das biographische Bild, das jede Biographie oder andere Quellen wie beispielsweise Egodokumente, transportieren, als Spiegel seiner Entstehungszeit sowie der Verortung des Schreibers bzw. der Schreiberin zu deuten – so etwa die biographischen Darstellungen zu Mathilde Wesendonck, die konform gehen mit dem biographischen Modell der Muse.
In verschiedenen Projekten setzen sich Mitarbeitende und Doktorandinnen des fmg aktuell mit dem Themenfeld „Biographie und Geschlecht“ auseinander (s. u. a. das Promotionsprojekt von Viola Herbst). Außerdem werden Fragen die (musikwissenschaftliche) Biographik betreffend in Seminaren sowie (interdisziplinären) Workshops und Veranstaltungen unter einem Gender-Blickwinkel diskutiert.
Zuletzt bearbeitet: 15.06.2021
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